Mit Bier und Würstchen für Jelzin

■ Festlich geschmückt und hochmotiviert begingen die Moskauerinnen und Moskauer den Tag des Referendums

Im russischen Reich geht die Sonne zwar unter, aber nur kurz. Als sich die Moskauer am Sonntag früh zu den Urnen begaben, war das Referendum im neun Zeitzonen entfernten Kamtschatka schon so gut wie gelaufen. Dafür konzentrierte sich das Gestirn an diesem Tag mit besonderer Intensität auf die Hauptstadt. Ich selbst hatte mich vormittags anhand der Aushänge am Nachbarhaus informieren wollen, wo sich das nächste Wahllokal in meinem Stadtteil Kunzewo befände. Aber ein Blick aus dem Fenster ersparte mir die Arbeit: Eine ganze Schar festlich aufgeputzter MoskauerInnen bewegte sich von der Chaussee zur direkt benachbarten Schule.

An keinem Sonntag in den letzten fünf Jahren waren die Kunzewoer Straßen so dicht bevölkert gewesen, die Bushaltestellen so vollgepackt. Mit gemessenem Ernst bewegten sich die BürgerInnen auf ihr Ziel hin, die Geschwindigkeit wurde unter anderem durch die für Wählerinnen offenbar obligatorischen Stöckelschuhe diktiert. Und Kind, Kegel und Schoßhündchen ordneten sich der Feierlichkeit der Stunde unter – als sei der ganze Stadtteil aus der Jetztzeit ausgestiegen, als habe ein mächtiger Regisseur noch einmal eine Kostümprobe für die Art von theatralischen Masseninszenierungen veranstaltet, wie sie nach der Oktoberrevolution auf den Straßen der russischen Großstädte gang und gäbe waren.

Auch Rentner wollen nicht in die Vergangenheit zurück

Eine nähere Betrachtung der Requisiten führte allerdings in die Gegenwart zurück. Nein, nicht mal vereinzelt tauchte eine der altmodischen Trainingshosen oder prestigeträchtigen neonfarbenen Jogging-Kombinationen auf, die sonst zum Wochenende hin das zwischen Wald und Wasser gelegene Kunzewo prägen. Dafür bezeugten die Sonnenbrillen aus Korea, Seidenblusen aus China und Vietnam und Mohair-Blazer aus der Türkei eine bewußte Weltläufigkeit. Und trotz der offensichtlichen Anstrengung, die den einzelnen Auftritten vorausgegangen war, war kaum jemand da, der durch Miene und Haltung den Refrain der braun-roten Opposition ausdrückte: „Früher haben wir normal gelebt, aber jetzt schreit unser Dasein zum Himmel.“

„Man hat uns einen Markt versprochen, aber wir haben einen Basar bekommen.“ Diesem zweiten Slogan der Anti-Jelzin-Opposition entsprachen die Wahllokale in proletarischeren Stadtteilen. Da hatten sich schnell einige Buden mit den oben beschriebenen Waren um die blau-weiß-roten russischen Fahnen gruppiert, da wurden im traditionell Jelzin-treuen Selenogorsk Bier und Würstchen feilgeboten und im Stadtteil Tuschino Apfelsinen – angesichts des Feiertages für 200 Rubel über dem Ladenpreis. Aber wiederum kaum jemand störte sich daran. Ebenfalls in Tuschino hatten am Freitag 120 RentnerInnen neben dem Kino „Baltika“ durch „Jelzin-Jelzin“- Chöre demonstriert, daß keineswegs die gesamte ältere Generation in die Vergangenheit zurückzukehren wünscht.

Das Ausfüllen der komplizierten Wahlzettel machte vielen älteren Bürgern Schwierigkeiten. Und ein Rentnerpärchen bat illegalerweise meine Freundin Xenija hinter den Vorhang der Kabine, damit sie ihnen dabei helfe. Hochzufrieden kamen die beiden wieder heraus, nachdem sie es vollbracht hatten, für Jelzin zu stimmen, aber gegen seine Wirtschaftspolitik. Barbara Kerneck, Moskau