Logenblick auf Staatskarossen

■ Neben dem renovierten Landtag bauen die Bewohner des "Rollheimer Dorfs" ihre Wagen zu Sommerhäusern um / Verschönerung im Kostenvergleich etwas günstiger

Mitte. Rund um die Wagenburg am Potsdamer Platz haben Polizisten mit Walkie-talkies Position bezogen. Untern ihren Achseln bilden sich Schweißflecken, nichts schützt sie vor der Sonne. An der Stresemann- und in der Köthener Straße stehen Mannschaftswagen. Großeinsatz im Bezirk Mitte. Der Preußische Landtag wird eingeweiht, die schwarzen Limousinen mit den einstelligen Nummern rollen an einem pittoresken Wohnprojekt vorbei, dem Rollheimer Dorf, nur 200 Meter vom neuen Sitz der Volksvertreter entfernt.

„Wir sind die bestbewachte Siedlung weit und breit“, sagt Christoph, 21 Jahre alt. Seine Rastazöpfchen tropfen, unter den Augen der schwitzenden Polizisten duschte er kalt und lange. Andere Rollheimer warten mit Zahnbürste und Seife vor dem dorfeigenen Hydranten. Heute ist Arbeitstag, die Siedlung bereitet sich auf den Sommer vor. Daß in Sichtweite gehämmert, asphaltiert, gemörtelt wird, stört die Bewohner wenig. „Die machen ihr 162-Millionen- Ding im Namen des Volks“, sagt Kolja, 20 Jahre, im Nebenberuf Schüler. Ihre selbstorganisierte Modernisierung hingegen koste 161 Millionen 999.900 Mark weniger und den Staat keinen Pfennig. Mit Georg, Marcus, Kai und Robert hat er sich gerade von der Köthener Straße abgesetzt, ihre neuen Quartiere befinden sich 30 Meter weiter, am Rande des Daimler-Benz-Geländes. „Bis Herbst haben wir Schonzeit“, hofft er, „der Platz ist geil.“ Koljas Besitz, Wohn-Schlaf-Küche in einem, ist ein Magirus Deutz, Jahrgang 63, früher mal ein „Bullenwagen“. Der steht jetzt mit Blick auf die weite Öde Richtung Gleisdreieck. Um die Sonne schöner untergehen zu sehen, vergrößert Kolja derzeit sein Wohnzimmer um eine Loggia. Auf die Bohlen wird ein Sofa gehievt, daneben ein Arrangement Zierplanzen gestellt. „Tomaten und Kartoffeln haben wir schon angepflanzt.“ Die Augen des Schrebergärtners strahlen. „Ein Stück Rollrasen ist ausgelegt.“

Auch Marcus, 21 Jahre und derzeit ohne Beruf, ist glücklich. Die Reichsbahn hat ihm für 20 Mark einen alten Bauwagen verkauft. Der wird jetzt auf Naturholz geschliffen. Vor seinem Haus wachsen schüttere Birken – die einzigen Bäume weit und breit, sie werden jeden Tag gewässert. Unter den Zweigen steht ein Kinderwagen, darin Ganja-Merlin, zwei Monate alt. Die halbwüchsigen Eltern bauen ein wunderschönes, knallrotes Feuerwehrauto, Jahrgang 1956, in eine Zweizimmerwohnung um. Ein halbes Dutzend Hunde streift umher, entgegen aller Diagnosen warf die scheinschwangere Doggen-Rottweiler-Dame Marlow viele kleine Kälber.

Auch schräg gegenüber, vorbei am Karl-Liebknecht-Denkmal, eingeklemmt zwischen U-Bahn- Baustelle und innerer Mauer, bereitet man sich auf den Sommer vor. Hier residiert die englische Schrottkünstlerkommune „The Lost Tribe of Migs“. Hunderte von Touristen kommen jeden Tag vorbei, fotografieren Mauerreste und die buntbemalten MiGs. Der „verlorene Stamm“ entwirft ein Flugblatt mit der Bitte um „Donations“. Sie wollen mit den sowjetischen Raketen nach Rußland, um sie dort, „zu peace-birds mutiert, aus der Asche des Kalten Krieges auferstehen zu lassen“. Wenige Meter entfernt, im feinen neuen Restaurant „Romagne“, sitzen die zukünftigen Stammgäste, einige Politiker. Einziger Gesprächsstoff: die Wagenburgler gegenüber. „Sind die wirklich friedlich?“ gruseln sie sich und halten ihre Aktentaschen fest. Anita Kugler