Man frage den Schauspieler nicht

■ Petra Kohse versuchte unter tropischen Bedingungen ein Gespräch mit dem Schauspieler Walter Schmidinger anläßlich seines 60. Geburtstages

Der Schauspieler Walter Schmidinger ist ein Mann des entschiedenen Einerseits – Andererseits. Auf der Bühne zeigt sich das daran, daß selbst seine größten Auftritte so einen „Ich bin ja eigentlich nur zufällig da“-Gestus haben können, daß seine umwerfende Komik immer ein wenig weinerlich und seine Tragik stets ironisch gebrochen ist. Eine kurzfristige Änderung des Abendspielplans würde ihn niemals erschüttern, hätte er sich doch als Prospero für alle Fälle schon mal den Puck in die Tasche gesteckt.

Nach seinem Debut in Wien gehörte der gebürtige Linzer Ensembles in Bonn, Düsseldorf und München an, bis er 1985 an die Staatlichen Bühnen Berlin wechselte. Hier spielte er unter anderem Lessings Nathan, Hofmannsthals Unbestechlichen, Shakespeares Richard II., er war zuletzt der Alte Moor in Schillers Räubern, der Monologist Richard in Thomas Bernhards nachgelassener Elisabeth II. und ist noch immer als Argan in Molières Eingebildetem Kranken zu sehen. Schmidinger ist das, was man einen Ersten Schauspieler nennt, und ist doch kein eigentlicher Star. Er ist ein begeisterter Ensemble-Spieler und veranstaltet doch im erbaulichen Alleingang Lesungen und Rezitationsabende. Einerseits – andererseits.

Zum Gespräch bittet der in Berlin wohnhafte Schmidinger in die Halle des Hotels Kempinski, bei 28 Grad im Schatten erscheint er, über die Hitze stöhnend, ganz in Schwarz. Mit österreichischem Akzent bietet er seine spezifische Dialektik dar: Die Antithesen erscheinen als Fortführung seiner Thesen, die Synthese heißt offenbar ganz einfach: Schmidinger.

Die wichtigste Erfahrung, die Walter Schmidinger in seiner Berliner Zeit bisher gemacht hat, ist der radikale Zuschauerschwund – „eine sogenannte Flaute“ – an den Staatlichen Bühnen. Seit ihnen auch die Theater im Ostteil der Stadt offenstehen, achten „die Zuschauer mehr auf Qualität“, sagt er. „Und wir sind eben nicht so gut wie die anderen.“ In einem nächsten, langen Satz zählt er dann aber sämtliche Inszenierungen der nach dieser Spielzeit scheidenden Intendanten Alexander Lang und Alfred Kirchner sowie von Katharina Thalbach auf, die „hervorragend“ oder doch zumindest Publikumserfolge waren. Worin liegt also der Mangel an Qualität begründet? Von Schmidinger ist keine eindeutige Antwort zu erhalten. Denn auch an Leander Haußmann, der im Schillertheater die „Minna von Barnhelm“ inszenierte und der gleich mit zwei Produktionen beim diesjährigen Theatertreffen vertreten ist, lag es wohl auf keinen Fall. Ihn hält Schmidinger für „einen der begabtesten jungen Regisseure, die man zur Zeit finden kann“. Effektheischend sei Haußmann zuweilen, schränkt Schmidinger dann ein. „Es ist ja so eine Sucht am Theater, um jeden Preis aufzufallen. Dagegen bin ich sehr.“ Aber wiederum nur einerseits, denn: „Sie müssen nicht glauben, daß ich gegen spektakuläre Effekte auf dem Theater etwas habe.“

Noch mit gleichem Atem schimpft er jedoch minutenlang über diverse Effekte, die ihn in den Inszenierungen von Einar Schleef oder Frank Castorf abstoßen (Cordelia pißt in einen Eimer, Lear trinkt denselben aus) und schließt: „Das würde mich allerdings nicht daran hindern, ein Angebot von Herrn Castorf oder Herrn Schleef mit Freuden anzunehmen. Allerdings würde ich gewisse Dinge nicht mitmachen.“

Walter Schmidingers Theaterverständnis ist konservativ. Auf die Frage, was er für die Aufgabe des Theaters halte, antwortet er wie aus der Pistole geschossen: „Die großen Dichter der Weltliteratur zur Diskussion zu stellen.“ Und dabei hat Werktreue zu walten, sagt er, der selbst schon inszeniert hat (1986 Oscar Wildes „Salome“). „Wir haben uns darum zu kümmern, warum Don Carlos zugrunde ging. Und ohne Mätzchen. Ohne Firlefanz.“ Daran, daß das Publikum aufnahmefähig und aufnahmewillig ist für die schlichte und ergreifende – dabei natürlich einmalige und originelle – Darstelllung klassischer menschlicher Konflikte, glaubt er fest; die Veränderung des Rezeptionsverhaltens durch die mediale Informationsflut trifft seiner Ansicht nach für die Theatergänger nicht zu.

Gleichzeitig sieht er sich mit diesen Ansichten jedoch sozusagen von außen und gibt zu bedenken: „An mir persönlich ist sicher sehr viel Kritik anzusetzen: daß ich zu gehorsam dem Dichter gegenüber bin. Ich lebe eben in einer ganz anderen Welt und habe versäumt, mit der Zeit zu gehen.“ Welche Welt die seine ist, bleibt natürlich nebulös: „Ich gehöre nicht zu den Menschen, die gerne in einer anderen Zeit gelebt hätten, vielleicht zwanzig Jahre früher, weil ich die Theaterzeit, wie sie jetzt ist, nicht mag“, sagt er, der zwei Drittel seiner jetzt 60 Jahre mit Theaterspielen verbracht hat. „Damals gab es bessere Regisseure, bessere Schauspieler, bessere Kulturpolitiker. Natürlich gibt es Gert Voss und Ulrich Wildgruber, aber im Vergleich zu damals ist das nichts. Das sind die Einäugigen unter den Blinden.“ Mit „damals“ meint Walter Schmidinger allerdings nicht, wie angegeben, die siebziger Jahre, sondern eher die zwanziger und das unmittelbare Nachkriegstheater – die Schmidingersche Zeitrechnung ist relativ.

Bis 1995 ist er vertraglich noch an Berlin gebunden; der neuen Ägide der Staatlichen Bühnen unter der Intendanz Niels-Peter Rudolphs sieht er hoffnungsvoll entgegen, das Auseinanderbrechen des noch amtierenden Intendanten-Teams bedauert er sehr. Walter Schmidinger scheint für jede Situation gewappnet und würde auch gerne selbst wieder inszenieren, wenn „die Konstellation der Mitarbeiter stimmt“. Zwischen Tschechow und Ionesco kann er sich dabei so ziemlich alles vorstellen. Derzeit probiert er den Zettel in Shakespeares „Sommernachtstraum“. Regie führt Hans Neuenfels. Die Premiere ist am 12. Juni.

Weder faßbar noch festlegbar ist dieser Mann, dessen blasses Gesicht hinter einer schwarzgerandeten Hornbrille versteckt ist. Sehr vorsichtig formuliert er und überrascht mit gelegentlichen Fäkalausdrücken, er spricht engagiert und wischt dann mit einem Lächeln über das Gesagte hinweg. Morgen wird er 60 Jahre alt. Das Gespräch ist ein Vexierspiel, ein verbaler Eiertanz, eine Sammlung von Seifenblasen, die sich nach über einer Stunde zur in die Luft geschriebenen Botschaft formieren: Man frage den Schauspieler nicht, sondern sehe ihm zu.