Kompromiß über zeitliche Streckung des Vertrags

■ Interview mit Klaus Zwickel, dem stellvertretenden Vorsitzenden der IG Metall

taz: Herr Zwickel, die IG-Metall-Mitglieder in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern haben für den Streik gestimmt. Gleichzeitig gibt es neue Gesprächssignale. So wollen sich die Tarifparteien in Thüringen am Freitag zu einem neuen Gespräch treffen. Glauben Sie, daß es – wie beim Tarifkonflikt in der westdeutschen Stahlindustrie – in letzter Minute doch noch zu einer Einigung kommt?

Klaus Zwickel: Ich kann mir das unter den gegenwärtigen Bedingungen kaum vorstellen. Natürlich wird man weiter Versuche unternehmen, um diesen Streik noch abzuwenden. Allerdings sehe ich dafür, wenn überhaupt, nur noch in jenen Tarifgebieten eine Chance, in denen wir die Urabstimmung durchgeführt haben.

Herr Düvel, ihr Bezirksleiter in Sachsen, hat gesagt, daß er einen Lohnabschluß wie in der Chemieindustrie sofort unterschreiben würde. Bezieht er sich dabei auf die absoluten Zahlen?

Herr Düvel hat nicht von der Übernahme des Chemieabschlusses geredet, sondern von den absoluten Löhnen. Tatsächlich bekommt ein Chemiefacharbeiter ab 1. April diesen Jahres einen Ecklohn von 2.144 Mark. Das ist genau der Betrag, den wir 1991 mit den Arbeitgebern mit Wirkung zum 1. April 1993 für vergleichbare Facharbeiter in der Metallindustrie vereinbart haben. Diesen Tarifvertrag haben die Arbeitgeber widerrechtlich gekündigt.

Franz Steinkühler hat unterdessen angekündigt, notfalls werde die IG Metall für den vereinbarten Lohn monatelang streiken. Die Arbeitgeber sprechen davon, daß die Gewährung der vertraglich fixierten Lohnhöhe 70.000 der 300.000 Arbeitsplätze in der ostdeutschen Metallindustrie gefährde. Ist das der IG Metall egal?

Dieser Unfug, den die Arbeitgeber verbreiten, wird nicht dadurch besser, daß man ihn ständig wiederholt. Durch die Tarifpolitik der IG Metall, durch Streiks der IG Metall ist noch kein einziger Betrieb kaputtgemacht worden. Die Vernichtung großer industrieller Kapazitäten in Ostdeutschland hat mit der Tarifpolitik nichts zu tun; das ist ein Resultat einer völlig verfehlten Finanz- und Wirtschaftspolitik im Prozeß der Wiedervereinigung. Wenn die Arbeitgeber den Streik verhindern wollen, dann müssen sie sich endlich zu einem Kompromiß bereit finden. Dieser Kompromiß kann aber nicht so aussehen, daß dem Vertragsbruch eine wesentliche Veränderung des bestehenden Vertrages folgt. Die Arbeitnehmer der Metallindustrie in Ostdeutschland haben ihre wirtschaftlichen Verpflichtungen darauf abgestellt, daß sie ab dem 1. April 1993 82 Prozent des vergleichbaren Westlohnes bekommen. Das ist unveränderbar.

Neben dem Streit um die Lohnhöhe geht es den Arbeitgebern um Öffnungsklauseln im Tarifvertrag. Herr Steinkühler hat erklärt, daß man bei ökonomischen Schwierigkeiten von einzelnen Unternehmen mit der IG Metall immer reden könne. Heißt das, daß die IG Metall bereit ist, Öffnungsklauseln zuzustimmen?

Das ist im Grunde genommen der Schnee von gestern. Die Frage von differenzierten Lösungen war ja exakt Gegenstand der Schlichtungsbemühungen. Die Arbeitgeber sind von den Schlichtern aufgefordert worden, Daten und Fakten über solche Betriebe vorzulegen, die nachweisbar möglicherweise den Tarifvertrag nicht erfüllen können. Die Arbeitgeber sind dieser Aufforderung nicht nachgekommen. Sie haben sich verweigert, weil es ihnen schon zum damaligen Zeitpunkt nicht um die Frage einer differenzierten Lösung gegangen ist; die Schlichtung stellte für die Arbeitgeber nur eine Zwischenstation dar, um die von Anfang an geplante widerrechtliche Kündigung durchzuführen. Es geht den Arbeitgebern – allen voran Gesamtmetall – darum, die Tür dafür zu öffnen, daß künftig Tarifverträge in Ost und West keine Mindestbedingungen mehr garantieren. Es soll statt dessen für die meisten Betriebe nur noch Tarifempfehlungen geben – die der Betrieb annehmen kann oder auch nicht. Vor dem Hintergrund der großen Arbeitslosigkeit in Deutschland sieht Gesamtmetall jetzt erstmals eine Chance, dieses strategische Ziel durchzusetzen. Deshalb muß der Streik in Ostdeutschland von massiven gewerkschaftlichen Protesten im Westen begleitet werden.

Steht das Angebot der IG Metall, eine differenzierte Lösung mitzutragen, noch oder nicht?

Die IG Metall hat schon frühzeitig deutlich signalisiert, daß ein Kompromiß über die zeitliche Streckung des Gesamtvertrages entstehen kann. Was die Tarifparteien in Sachsen seinerzeit bei einem Gespräch mit Ministerpräsident Kurt Biedenkopf als Lösungsvorschlag erarbeitet haben, gilt nach wie vor. Dieser Kompromiß ist allein auf Druck der Arbeitgeberzentrale in Köln nicht umgesetzt worden.

Für den Fall, daß es keine Einigung gibt, will die IG Metall Betrieb für Betrieb Firmentarifverträge abschließen. Das wäre das Ende des Flächentarifsystems. Eine auch für die Gewerkschaften nicht ungefährliche Entwicklung, denn dann ließen sich die einzelnen Belegschaften wohl viel leichter gegeneinander ausspielen...

Einen solchen Schritt erwägen wir nicht aus Jux und Dollerei, sondern das ist die logische Konsequenz der Strategie von Gesamtmetall. Wenn die Arbeitgeber Flächentarifverträge mit Mindestbedingungen in Frage stellen, müssen wir unsere Mitglieder auf andere Weise schützen. Dann bleibt uns nur der Weg, den einzelnen Unternehmer als Tarifpartei zu nehmen. Dabei würde man natürlich zunächst mit den gewerkschaftlich am besten organisierten Betrieben beginnen. Wenn die zunächst nicht erfaßten Belegschaften dann sehen, welche Stärke gut organisierte Beschäftigte entfalten können, werden wir nach meiner Einschätzung in der Lage sein, in fast allen Betrieben vergleichbare Lohnverhältnisse durchzusetzen. Auch in einer Flächentarifauseinandersetzung sind Arbeitnehmer Pressionen und Erpressungen seitens der Unternehmer ausgesetzt. Interview: Walter Jakobs