Verschlafen die Deutschen ihr Altern? In 20 Jahren wird ein Drittel über 60 Jahre alt sein

■ Die Politik hat zwar die Bedeutung der Alten als WählerInnen erkannt, zieht bislang aber keine Konsequenzen aus dem Scheitern des Generationsvertrages

„Senioren gehören dazu.“ Hannelore Rönsch, Bundesseniorenministerin, läßt Floskeln auf Plakatwände anschlagen. Ohne öffentliches Echo hat der Rat der Europäischen Gemeinschaft 1993 zum „Europäischen Jahr der älteren Menschen und der Solidargemeinschaft der Generationen“ erklärt. Hans-Ulrich Klose heftet sich das Etikett „Seniorenbeauftragter“ an die schmale Brust. Wolfgang Schäuble spielt das christdemokratische Pendant. In den Büros von Politikern und Experten geht es um – das Wahlvolk altert.

Über 16 Millionen Menschen in der Bundesrepublik sind heute älter als 60 Jahre – 21 Prozent der Bevölkerung. Eurostat, das EG- Statistikamt, prognostiziert für das Jahr 2020 einen Anteil von 26 Prozent. Noch später, wenn die Babyboomer ihre Rente beziehen, haben 40 Prozent der Deutschen mehr als 60 Jahre auf dem Buckel. Wen wundert's, daß Politiker das Wählerpotential „Senioren“ entdecken.

Das Europaparlament mischt ebenfalls mit: Eine Million DM steht bereit, um Ende September nach dem Vorbild der Sozialistischen Fraktion ein „Seniorenparlament“ einzuberufen. Die hatte im letzten Jahr alte Menschen aus EG-Ländern zusammengetrommelt, um sie formulieren zu lassen, was ihnen am Herzen liegt. Denn: Die demographische Entwicklung ist keineswegs eine deutsche Besonderheit. 2020 wird jeder fünfte EG-Bürger älter als 60 sein.

Unterdessen registriert die Öffentlichkeit das Phänomen der alternden Gesellschaft als Pflegeversicherungsdebatte. Hinter den nackten Zahlen verbirgt sich allerdings ein Strukturwandel, der weit mehr bedeutet, als daß immer weniger Junge arbeiten, um für immer mehr Alte zu sorgen.

Alan Walker, Vorsitzender der „EC Commission Observatory on Ageing and Older People“ und Professor für Sozialpolitik in Sheffield, beschreibt es so: „Neben der Alterung der Gesellschaft werden wir Zeuge eines tiefgreifenden Wandels von Erfahrung und Bedeutung des hohen Alters in der Gesellschaft des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts.“ Die Frage lautet dann, welcher Platz in der Gesellschaft wird alten Menschen zugewiesen?

Allein die Tatsache, alt zu sein, kann kein Hindernis sein – reiche Lebenserfahrung nutzend –, noch dem Beruf nachzugehen oder Verwandte zu betreuen. Kann man immer mehr alte Leute verdammen, neutralisiert und milde lächelnd wie all die „Werther's Echte“-Werbeopas herumzusitzen? Der Eintritt ins siebte Lebensjahrzehnt kann in Zukunft nicht mehr bedeuten, aus einer berufszentrierten Arbeitsgesellschaft in eine passive, stille Rentnerrolle abgeschoben zu werden.

Die Gruppe der über 60jährigen besteht, entgegen üblicher Vorurteile, nicht einfach nur aus Invaliden. Alter bedeutet immer weniger nur Krankheit und Siechtum. Wissenschaftler teilen das höhere Lebensalter daher in mindestens zwei Phasen. Zwischen 50 und 74 scheiden wir derzeit aus dem Berufsleben aus. Und dies, obwohl ein 60jähriger im Schnitt noch zwei Drittel seiner früheren Leistungsfähigkeit besitzt, wie die Altenmedizin bestätigt. Erst in der Lebensspanne ab 75 wird Krankheit zum zentralen Thema.

Das Bild alter Menschen wird entscheidend von ihrer ökonomischen Situation geprägt. Fast 40 Prozent der alten Bundesbürger glauben, daß fehlendes Geld die Hauptsorge alter Menschen ist; in den neuen Bundesländern denken über 55 Prozent so. Es geistert das Schlagwort „Altersarmut“ herum. Soziale Marktwirtschaft garantiert Wohlstand keineswegs für alle. Aber andere Gruppen, alleinerziehende Mütter oder Langzeitarbeitslose etwa, sind stärker von Armut betroffen.

Die Alten von heute sind trotz finanzieller Verluste beim Übergang zur Rente meist relativ gesichert, nur einige rutschen ins finanzielle Aus. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes sind 44 Prozent der Alleinerziehenden und bis zu 14 Prozent der Familienhaushalte von Armut betroffen. Bei den Alten über 65 sind es nur noch sechs Prozent. Und, diese Quote sinkt seit Jahren beständig. Die Mehrheit der Alten ist potentiell noch beweglich, materiell abgesichert und überwiegend weiblich. Auf 4,9 Millionen Männer über 60 kamen 1989 im alten Bundesgebiet 8,2 Millionen Frauen. Die alternde Gesellschaft ist also auch eine zunehmend feminine.

Wie kam es zu der demographischen Entwicklung? Die Geburtenrate ist seit Reichsgründung 1871 mit Ausnahme der „Wirtschaftswunderjahre“ stetig gesunken. Gleichzeitig nahm allein in den letzten drei Jahrzehnten die Lebenserwartung um 6,6 auf 79 (Frauen) und 5,9 auf 72,6 Jahre (Männer) zu. Als Bismarck die Rentenversicherung einführte, erreichte kaum jemand die Rentengrenze von siebzig Jahren. Die Struktur der Bevölkerung wurde nur durch die Einwanderungswellen in die alte Bundesrepublik verjüngt.

Migranten – darunter kaum Alte – bremsen (unwillentlich) den Alterungsprozeß. Die Blockade eines liberalen Einwanderungsgesetzes und die Demontage des Asylrechts sind auch in dieser Hinsicht kurzsichtig und dumm. Scheinbar volkswirtschaftliche Argumente zur Einschränkung des Asylrechts brechen vor diesem Hintergrund zusammen. Trotzdem sind Einwanderer keine personifizierte Patentlösung zur Sanierung der deutschen Altersstruktur, wie bisweilen kolportiert wird. Wollte man im Ernst ausschließlich über Zuwanderung den Prozeß stoppen, würde, so hat es die Leiterin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung Charlotte Höhn vorgerechnet, der Migrationssaldo langfristig bei mindestens 600.000 Menschen liegen. Das heißt, so viele Menschen müßten jährlich in die Bundesrepublik einwandern. In der Folge stiege, wie Höhn es formuliert, die Einwohnerzahl in „beispiellose Dimensionen“.

Langfristig führt an der Umverteilung vorhandener Arbeit von Arbeitenden zu Nichtarbeitenden und damit auch unter den Generationen kein Weg vorbei. Selbst wenn es gewerkschaftliche Tabus berührt, muß die Rentengrenze auch nach oben flexibilisiert werden. Bisher findet unter dem Druck von Arbeitslosenzahlen „Ausmusterung“ statt, um jüngeren Jahrgängen Jobs zu sichern. Der Preis für diese Stabilisierungspolitik ist das Abdrängen der Älteren aus dem zentralen Bereich der Arbeitsgesellschaft. Rente als Vor- Tod.

Die Politik ist anscheinend nicht zur Korrektur des bisher geltenden Rentenrechts fähig, weil dies in Konsequenz eine Abkehr von der gesamten bisherigen Wirtschafts- und Sozialpolitik bedeuten würde. Statt dessen verweigern die alten Männer aus den Führungsetagen ihren Altersgenossen einen angemessenen Platz in der Gesellschaft. Würden sie selbst einem gewöhnlichen Beruf nachgehen, wären sie längst auf Mallorca zum Puzzle- sortieren abgestellt.

Nur halbherzig wird versucht, das Potential Älterer sinnvoll zu nutzen. Das zuständige Bundesministerium etwa hat im letzten Jahr das Modellprogramm „Senioren- Büro“ ins Leben gerufen. Die gleichnamigen Einrichtungen sollen als Kontaktbörse für Alte dienen und unter anderem ehrenamtliche und nachberufliche Aktivitäten fördern.

Inzwischen ist hektische Forschungstätigkeit rund ums Altern ausgebrochen. Die Belange alter Menschen finden anscheinend zunehmend Beachtung. Wem kommt dies eigentlich zugute? Der Wiener Soziologe Anton Amann stellt dazu fest, wie überall gehe es bei den Diskussionen im Zusammenhang von Alterung um bloßen Machtausgleich. Das „Wohl und Wehe alter Menschen“, so Amann, spielt dabei nur am Rande eine Rolle. Tatsächlich fühlt sich ein großer Teil der Alten von den Parteien nicht ausreichend vertreten. Rund 50 Prozent von ihnen halten – laut einer Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie – eine eigene, auf ihre Interessen ausgerichtete Partei für notwendig. Kolja Kandziora, Andreas Motel