Wie sage ich es bloß meinen lieben Eltern

■ Für 40jährige kommt die Frage: Was tun mit den pflegebedürftigen Erzeugern?

„Diesmal kommst du doch zu Vaters Geburtstag, nicht? Wer weiß, wie lange wir so etwas noch feiern können.“ Erst war es nur ein beiläufiger Nebensatz, leicht überhörbar wie die Mitteilung, daß Tante Marie ihren zweiten Schlaganfall hat, der Hund von Manzkes ein künstliches Hüftgelenk bekommt und die Tanne an der elterlichen Hauszufahrt – „du weißt doch: die am Geräteschuppen“ – den Borkenkäfer hat. Inzwischen taucht der kleine Nebensatz immer öfter in den wöchentlichen Telefonaten mit „zu Hause“ auf: „solange wir das noch können“ – noch reisen, schenken, dich besuchen können, solange wir noch gucken, noch laufen können. Die Frage, die hinter dieser Feststellung steht, bleibt irgendwo zwischen den fünfhundert Telefonkilometern schweben: Und wenn nicht? Wenn all das nicht mehr geht? Was dann?

Vielleicht erwartet die Bemerkung gar keine Antwort. Vielleicht ist sie nur milde Erinnerung daran, daß man sich – beiderseits, Eltern wie Kinder – bislang den Luxus der Verdrängung leisten konnte: statt älter zu werden, wurden unsere Eltern immer jünger. Der Auszug der Kinder bekam ihnen blendend: die Koffer von der letzten Kreuzfahrt waren gerade ausgepackt, da wurden schon die Wanderschuhe für die Bergtour mit Freunden geschnürt. Nach jahrzehntelanger Disziplin im Arbeits- und Familienalltag trauten sich die Eltern, endlich, ihr Leben zu genießen – wenn sie Glück hatten, mit einem Wirtschaftswunderkonto im Rücken. Sicher, die Zukunft brachte sich immer häufiger in Erinnerung: schon wieder eine Schulfreundin gestorben, und den viel jüngeren Skatbruder hat man erst neulich zu Grabe getragen. Doch wenn den Enkeln beim Fahrradfahren die Puste ausging, waren Oma und Opa immer noch bei bester Kondition. Wir Kinder der fidelen Rentner registrierten es mit Erleichterung. Längst von den ersten eigenen Alterszipperlein geplagt, wollten wir den dritten Frühling unserer Eltern nur allzu gern zur Dauerjahreszeit erklären.

Und jetzt dieses „solange wir das noch können“. Eine nüchterne Feststellung eigentlich, doch nicht weit von der Drohung entfernt: Herrgott noch mal, was soll man denn machen mit Leuten, die nun mal das Pech haben, in diesen Zeiten alt zu werden und unsere Eltern zu sein? Es ist ja nicht so, daß wir uns gar keine Gedanken darüber machen. Aber das sind eher die Gedanken der schwarzen Art. Niemals würde man sie im Familienkreis aussprechen, weil man sich auch selber dafür schämt: daß auf einer der vielen Reisen ein Flugzeugabsturz beiden Eltern einen raschen, gemeinsamen Tod bescheren möge oder daß die Krankheit, die unweigerlich kommen wird, tödlicher Herzinfarkt oder Schlaganfall heißt.

Natürlich haben wir heimlich auch entschieden, wer von beiden zuerst sterben sollte, damit der „pflegeleichtere“ Elternteil übrigbleibt: mit Mutter war es zwar schon immer schwierig, aber sie hat einen großen Freundeskreis. Das nimmt Verantwortung ab. Um Vater würde man mehr trauern, aber der alte Herr weiß ja nicht mal, wo der nächste Supermarkt ist. Und daß der Absprung der Schwester vom elterlichen Haus nie weiter führte als bis zur nächsten Kreisstadt, finden wir längst nicht mehr hasenfüßig, sondern nur noch entlastend. Wenn das „solange es noch geht“ nicht mehr geht, ist sie am nächsten dran. Ist sie doch mit ihrem Eigenheim und den Kindern ohnehin viel eher auf Familie programmiert als wir.

Wir selbst haben uns da beizeiten aus dem Schneider gebracht. Aus Selbstschutz haben wir die Familienbande gekappt und die Eltern zum Entzug erzogen: keine Blumen mehr zum Muttertag. Und nein, Weihnachten braucht ihr schon gar nicht mit mir zu rechnen. Lange Zeit wäre es uns ohnehin lieber gewesen, der Esel hätte uns im Galopp verloren – nur ließ sich dieser Wunsch mit den biologischen Erkenntnissen über die menschliche Fortpflanzung etwas schwer vereinbaren. Also legten wir zumindest ein gehöriges Stück Distanz zwischen uns und unsere Erzeuger: sie dürfen nicht in unser Leben reinreden – wir redeten schließlich auch nicht in das ihre. Keinerlei Verpflichtungen von hie nach da, keinerlei Erwartungen, keinerlei Besitzansprüche aneinander (das Scheinchen, das regelmäßig mit der Weihnachts- oder Geburtstagspost von „zu Hause“ kam, hat man dann doch ganz gerne eingesteckt. Und auf das eigene Stück vom Familienerbe würde man auch nur ungern verzichten). Einseitig kündigten wir den Generationenvertrag auf, nachdem die Elternseite ihren Vertragspart pflichtgemäß erfüllt hatte. Es war ja ihre Entscheidung gewesen, Kinder in die Welt zu setzen und aufzuziehen.

Der demonstrative Vertragsbruch wich im Laufe der Jahre einer versöhnlichen Annäherung. Gedämpfter Radikalismus, persönliche Souveränität und das eigene Alter stimmten nachsichtiger gegenüber den eigenen Eltern. Doch die Annäherung führte geradewegs in Konflikt mit dem eigenen Geschäftsgebaren: sicher, die Aufkündigung des Generationenvertrags gilt noch heute. Das haben die meisten Eltern, wenn schon nicht akzeptiert, dann doch zumindest geschluckt. Nur: Menschlich, moralisch verspricht dieses elterliche Sich-Fügen in das Unabänderliche wenig Absolution. Wenn wir Glück haben und die Eltern genug Geld, dann haben sie sich beizeiten in ein halbwegs menschenwürdiges Altenstift eingekauft. Wenn wir Pech haben, haben sie ihre Zukunft nicht nur vor uns tabuisiert, sondern auch vor sich selbst. Dann werden die unausgesprochenen Erwartungen praktische Einlösung einfordern, und wir werden uns schwertun, sie mit dem Stempel „nicht zuständig“ zurückzuschicken. Denn die Industrienationen haben nach dem Zerfall der Familie keine Instanzen geschaffen, an die man die Verantwortung mit dem Vermerk weiterleiten könnte: „Alte Leute, pflegebedürftig, bitte menschenwürdig betreuen“.

Die Pflegeversicherung, so sie denn je kommt, wird bestenfalls eine minimale Grundversorgung garantieren. Ein menschenwürdiges Altern und Sterben nicht. Nicht einmal darüber, wie so etwas überhaupt aussehen könnte, hat sich die jetzt alternde Generation Gedanken gemacht. Dabei spürten unsere Eltern sehr wohl, daß ihre eigenen Eltern die letzten waren, die eine Versorgung und Pflege im Familienkreis erfolgreich einfordern konnten. Schon unsere Mütter waren von dieser Aufgabe überfordert und genervt. Wie sollen da wir mit unserem Acht- bis Zehnstundentag einen Menschen pflegen?

Dennoch, es wird keine neue Rückwärtsmobilität geben. Nur verschwindend wenig „Kinder“ werden zu ihren Eltern ziehen, und das aus gutem Grund, und nur die wenigsten werden ihrem Vater oder ihrer Mutter sagen: Du kannst zu mir kommen. Aber der Verweis, daß diese Zeiten nun mal so sind, wie sie sind, schützt nicht: nicht vor moralischer Verantwortung, nicht vor konkretem Handlungsbedarf und nicht vor ohnmächtiger Hilfslosigkeit gegenüber einem gesellschaftlichen Vakuum, das Unmenschlichkeit produziert. Lina Braake