Puddingattentat und Vietnamkongreß

Ein historischer Spaziergang zu APO-Schauplätzen in Berlin  ■ Von Günter Ermlich

Brigitte (44) will „Berlin näher kennenlernen, wozu 1968 wesentlich dazugehört“. Thomas (36) beschleicht das Gefühl, „die Zeit verpaßt zu haben“. Er möchte dem Zeitgeist von damals nachspüren. Sven (27) aus Ostberlin will sich einen „Überblick über die Zeit und die Schauplätze verschaffen“. „Der lange Marsch durch die Geschichte der APO“ heißt der historische Stadtspaziergang des „Kulturbüros“. Eineinhalb Jahre APO, Anfang 67 bis Mitte 68, werden im Zeitraffer von zweieinhalb Stunden abgespult. West-Berlin war der Kristallisationspunkt der 68er; alle „Originalschauplätze“ liegen in Berlin-Charlottenburg.

Stadtbilderklärer Steffen de Rudder ist kein zeitzeugender APO-Veteran, sondern ein Nachgeborener von 31 Jahren. Der Architekt hat sein APO-Wissen aus zweiter Hand, aus Büchern erlesen, aus Archiven gesammelt. Weil es kaum sichtbare Zeitzeichen von damals gebe, will er uns zeigen, „welche Geschichte sich hinter den ganz normalen Häusern verbirgt“.

Erste Station: Deutsche Oper, Bismarckstraße. Das Relief des österreichischen Bildhauers Alfred Hrdlicka „Tod eines Demonstranten“ erinnert an den Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 und die Ereignisse rund um die Oper. Unser APO-Führer erzählt die Bilder einer Demonstration nach. Tausende protestieren gegen den Besuch des Schahs von Persien in Berlin. Die Männer meist mit Anzug und Schlips, die Frauen im Kostüm. Kein wütender Mob. Staatskarossen fahren vor. Bundespräsident Lübke, Berlins Regierender Albertz, der Schah plus Farah Diba verschwinden in die Oper. Einige Eier und Tomaten fliegen. Drinnen gibt es „Die Zauberflöte“, draußen den „Knüppel frei“ der Berliner Polizei. Polizeipräsident Duensing spricht später von der „Leberwursttaktik“ bei den Demonstranten: „Wenn man in der Mitte hineinsticht, platzen sie an den Seiten auf.“ Eine wilde Treibjagd der Polizei beginnt.

Krumme Straße 67, schräg gegenüber der Oper. Vor das Gitter zum Garagenhof stellt unser Stadtbilderklärer ein Foto. Ein Mann liegt am Boden. Es ist Benno Ohnesorg. Eine Frau, über ihn gebeugt, hat ihre Handtasche unter seinen Kopf gelegt. Ohnesorg bekam einen Schuß in den Hinterkopf. Der Todesschütze Kurras wird ermittelt, aber aber aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Die Polizei-Version: gewalttätiger Rädelsführer in Notwehr erschossen. Die Volksseele kocht. Die BZ vom 3. Juni 67 hetzt: „Wer Terror produziert, muß Härte in Kauf nehmen.“ An Ohnesorgs Todestag erinnern das „Kommando 2. Juni“ und die „Bewegung 2. Juni“.

Stuttgarter Platz, Ecke Kaiser- Friedrich-Straße. Berliner Altbau. Untendrin der „Golden Gate Club“: „Girls live“. Im 3. Stock eine riesige Wohnung, siebeneinhalb Zimmer. Früher die Wohnung der legendären Kommune 1. Sie wollte das Wohnen zum Programm erheben: „Die Revolutionäre müsen sich zuerst selbst revolutionieren“, hieß ein berühmtes Motto. Die K 1 galt als die Bürgerschreckzentrale schlechthin. Ihre Hauptdarsteller: Dieter Kunzelmann, „Fritz Langhans und Rainer Teufel“. Ein schöner Versprecher.

Die Legenden um die K 1 sind komödiantischer Höhepunkt der APO-Tour. Zum Beispiel das geplante „Puddingattentat“ auf den amerikanischen Vizepräsidenten Humphrey 1967. Weil die Kommunarden zuviel schwatzen, mußte auch der blödeste Staatsschutz Wind davon bekommen. Alle Verdächtigen werden verhaftet. Das Kriminaltechnische Labor analysiert. Schlagzeile am nächsten Tag: „Sprengstoffattentat verhindert“. Pustekuchen. Alles war nur Puddingpulver. Die Polizei steht nackt da.

Nachspiel in der „Moabiter Seifenoper“. Justizverfahren gegen Teufel und Langhans. Die beiden Anklagepunkte: das „Puddingattentat“ und einige inkriminierte Flugblätter. Den Angeklagten kann nichts nachgewiesen werden. De Rudder zitiert genüßlich aus den Prozeßakten. Der Richter fleht Teufel an, bei der Urteilsverkündung zu stehen. Teufel hat Mitleid: „Wenn es denn der Wahrheitsfindung dient.“

Nächste Station: Kurfürstendamm 141. Unten im Geschäftshaus ist „Eduscho“ drin, im 1. Stock weht die Fahne des Türkischen Generalkonsulats. Im inzwischen abgerissenen Altbau war damals das Büro des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS). Auf dem Bürgersteig vor dem Haus ist eine Platte in das Pflaster eingelassen. Sie erinnert an das „Attentat auf Rudi Dutschke 11. April 1968.“ Der arbeitslose Anstreicher Josef Bachmann schießt auf den „Volksfeind Nr. 1“. An den Spätfolgen der Schußverletzung starb Dutschke 1979. Das Attentat löste weltweite Proteste aus. Hunderttausende zogen noch in derselben Nacht zu den „Springer“-Häusern.

Das Amerikahaus in der Hardenbergstraße war der zwanghafte Bestandteil jeder Demo-Route damals. Steffen de Rudder gibt eines derHighlights wieder: ein kleines Sit-in 1966 gegen den Krieg der Amerikaner in Vietnam, dem großen Thema der Studentenbewegung. Demonstranten werfen einige Eier, nebenan von Ullrich im Zehnerpack geholt, gegen die Fassade. Dann setzen sie den US-Sternenbanner auf Halbmast. Riesenrummel und Bestürzung am nächsten Tag. Bürgermeister Willy Brandt entschuldigt sich persönlich beim US-Stadtkommandanten. „Eine Schande für unser Berlin. Einer zahlenmäßig kleinen Gruppe von Linksradikalen ist die Kneipe zu eng geworden“, sabbert die BZ. Eine Schande sei es, kommentiert unser APO-Führer, daß ein paar Eier für mehr Wirbel sorgten als die Napalmbomben der Amis auf Vietnam.

Letzte Station: das Audimax der Technischen Universität. Schauplatz des legendären Vietnamkongresses am 17./18. Februar 1968. „Der Kongreß war Höhepunkt und Wendepunkt der Zeit zugleich“, memoriert unser APO- Führer. Über fünftausend Menschen, Delegationen aus über vierzig Ländern mit Grußadressen. Der charismatische Rudi Dutschke redete zweieinhalb Stunden wie am Fließband. Ohne Punkt und Komma. Der Saal tobte. Ein kurzes Tondokument seiner Rede über die „kulturrevolutionäre Übergangsperiode“ und den „alltäglichen Faschismus“, das unser APO-Experte vorspielt, findet bei den Teilnehmern heute kaum Widerhall.

Die Revolution fiel, wie bekannt, ins Wasser. Dennoch hinterließ der Kongreß seine gesellschaftssverändernden Spuren. Weil die Kinder im überfüllten Audimax laut krähten, mußten die Mütter mit ihnen raus ins Foyer. Hier hoben sie die Kinderläden aus der Taufe. Zwei Monate später gab es bereits zwei Kinderläden in Berlin. Heute sind es über hundert.

Die nächsten APO-Spaziergänge des „Kulturbüros“: 2.5. um 13 Uhr, 23.5. um 15 Uhr, 20.6. um 15 Uhr, 11.7. um 15 Uhr. Treffpunkt: Haupteingang Deutsche Oper, Bismarckstraße 34–37, Berlin- Charlottenburg.