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Diese Täternähe deutscher Innerlichkeit

■ Im Herbst letzten Jahres sprach Marko Martin mit Hans Sahl

Fragt uns aus.

Wir sind zuständig.

Unser Dasein ist für Euch

bereits Legende geworden,

unser Leid ein Gerücht von gestern.

Aber in den Liedern der Vertriebenen

und im Rascheln des Windes,

der ein verbranntes Buch aufblättert,

erzählen wir Euch, was geschah,

als der Hahn zum drittenmal krähte.

Hans Sahl

taz: Herr Sahl, wie erlebten Sie die Situation nach 1945?

Hans Sahl: Leider gab es ein großes Mißtrauen gegen uns Emigranten. Im Osten stürzten sich die jungen Autoren erst einmal auf die kommunistische Exilliteratur, also Brecht, Seghers, Bredel. Im Westen waren die Facetten etwas anders: Dort erschien 1959 mein Roman „Die Wenigen und die Vielen“, der zuerst von allen Verlegern abgelehnt worden war, weil darin die Geschichte eines jungen Intellektuellen beschrieben war, der als Prokommunist aus Deutschland weggeht und aufgrund seiner Erfahrungen im Exil zum Antikommunisten wird. Die Botschaft war: Alles noch einmal überdenken, nichts als gegeben hinnehmen. Diese Parole aber kam zu früh und machte mich suspekt. Denn die Zeit damals war nicht danach. Die Gruppe 47 stand mir distanziert gegenüber, in ihrem Kampf gegen die Adenauer-Restauration war ich als Bundesgenosse einfach nicht koscher. Ich fand also während meiner Deutschlandbesuche keinen Anschluß und ging wieder zurück nach New York, wo ich seit 1941 lebte. Übrigens wurden auch andere kritische Linke wie Mehring oder Döblin kaum beachtet. Die berechtigte Kritik der Intellektuellen an Adenauer führte im Schlepptau eine sehr undifferenzierte Begeisterung gegenüber allem, was aus dem Osten kam: Nur dort war der wahre Antifaschismus existent. Döblin ging verbittert nach Paris. Mehring starb einsam in Zürich, Schwarzschildt absolut namenlos in New York – und in Deutschland wurde für lange Zeit der Schriftsteller, der Jude, der Emigrant, der Marxist und der Stalinist zu einer Person: Alle, die diese Vereinfachung störten, wurden ausgegrenzt. Das dauerte eigentlich bis zu dem Zeitpunkt, als Gorbatschow kam und dann 1989 die Mauer fiel. Erst jetzt bröckelten die Fronten, regte sich Interesse. Junge Leute kamen zu mir und wollten wissen, was ihre Väter ihnen verschwiegen und was die Großväter verdrängten. Ist das nicht merkwürdig?

Immerhin ist man da in Osteuropa schon weiter als in Deutschland. Havel, Michnik, Konrad, Dinescu... Aber warum passiert hier kaum etwas? Weshalb wird die Existenz einer nichtkommunistischen Linken bis heute ignoriert? Glauben Sie, daß viele West- Intellektuelle deshalb daran vorbeigingen, weil sie den „Beifall von der falschen Seite“ befürchteten? Oder steckt nicht auch in manchen eine totalitäre Seele, die es einfach nicht verwinden kann, daß es Menschen gibt, die antikommunistisch und links gleichermaßen sind?

Diese Frage beschäftigt mich ganz stark. Eine mögliche Antwort haben Sie schon gegeben, aber da kommt noch mehr hinzu. In Deutschland zählt ja Unrecht-Haben zu den Todsünden statt zu einem erwünschten Weg für neue Erkenntnisse. Und wenn der Marxismus eine Religion ist, dann wird auch immer ein irrationaler Rest bleiben: Der Papst hat sich geirrt, die Konzilien waren verbrecherisch, aber die Kirche... Verstehen Sie? Außerdem war der historische Materialismus mal etwas Fortschrittliches, der Marxist schien auf der Höhe der Zeit zu sein, und das auf ewig – wie soll man so etwas schnell abstreifen, wer ist schon stark genug dafür? Dieser Brechtsche proletarisch-elitäre Habitus machte doch etwas her, man war souverän und progressiv – wie soll man sich dann wieder der unspektakulären Wirklichkeit anbequemen? Wie soll man plötzlich all das Absurde aushalten, wenn man doch per Ritterschlag gegen alle Widersprüche gefeit war?

Wenn die alten Nazis nach Kriegsende hintreten und sagen: Seht, wir hatten doch recht mit unserem Antikommunismus, dann ist die Empörung gegen so etwas doch wohl legitim.

D'accord. Trotzdem ist es die Logik von Infantilen, daß der Gegner meines Gegners automatisch mein Freund sein müsse. Sie haben ja recht, aber müßte die Generation der empörten Söhne nicht wenigstens jetzt aufwachen? Im Grunde genommen setzen sie ja das Taktieren und Verschweigen ihrer Väter nur mit anderen Mitteln fort. Die Auseinandersetzung mit den zwei totalitären Vergangenheiten steht an, und zwar an der Seite aller Opfer, aller Weggestoßenen und nicht mit relativierender Zahlenakrobatik. Das aber erfordert Courage und Mitgefühl, und da sehe ich in diesem Land der permanenten Rechthaber schwarz. Der Stalinismus ist ebensowenig nur ein DDR-Problem, wie der Nationalsozialismus keineswegs alleinige Erbangelegenheit der Bundesrepublik ist. Ich bin der letzte einer Generation, die sich unter großer Gefahr bereits in den dreißiger Jahren für Demokratie und gegen die Relativierung der Menschenwürde aussprach; ich denke, das ist eine Tradition, auf die es zurückzukommen lohnen würde...

Aber vielleicht sind Leute wie ich noch immer zu undeutsch, zu kosmopolitisch. Ich erinnere mich, wie mir Hans Werner Richter von der Gruppe 47 klagte, daß die Umerziehung der Deutschen durch die Amerikaner eine Katastrophe sei. Und so wurde ich bei meiner ersten Rückkehr nach Deutschland bei einer Party begrüßt: „Ja, allein mit Coca-Cola geht's bei uns nicht.“ Keine Rede von den neu eingerichteten Amerikahäusern, der dort ausliegenden Presse, der versuchten Heranführung eines ganzen Volkes an den Puls der Zeit... Eine hochinteressante Sache auch dies: Gegen Kriegsende hatte man in der amerikanischen Armee die Idee, die beste Literatur des Landes gratis in Deutschland zu verteilen. Emigrierte Autoren wie ich oder Hermann Kesten besorgten die Übersetzungen, wurden aber nicht namentlich erwähnt: Man wollte bei den Deutschen keine Vorurteile schüren, die es aufgrund unserer Existenz sicher gegeben hätte.

Damit die Täter und Mitläufer nicht ärgerlich werden, verschweigen die Opfer, daß sie noch leben?

Genau so. Aber diese hervorragenden Bücher wurden unters Volk gebracht und sicher auch gelesen. Ist so eine Aktion jedoch jemals dankbar erwähnt worden? Darüber wäre einmal ein Aufsatz fällig – auch mit Blick auf die Gegenwart, wo man dem Westen ziemlich pauschal oberflächliche Arroganz vorwirft.

Dieser Coca-Cola-Satz ist für mich ungeheuer bezeichnend, ein Indiz deutschnationaler Überheblichkeit unter dem Deckmantel von Kulturkritik. Heute das gleiche: das bedrohte Kopfsteinpflaster in Mecklenburg gegen eine kalt-urbane Porsche- und McDonald's-Welt.

Die Mentalität hat sich kaum geändert. Für notwendige Sozialkritik, für die pragmatische Bewahrung von Bewahrenswertem bleibt bei solcher Teutonen-Romantik natürlich kein Platz mehr; um so besser kann man sich als ewig Unterlegener fühlen.

Sie erwähnten die Ignoranz gegenüber den Emigranten. Wie stellt sich das für Sie heute dar, wenn Sie sehen, daß aus dem Osten ausgebürgerte Künstler und Schriftsteller wieder einen schweren Stand haben?

Das ist in der Tat hochinteressant, und die Parallelen sind verblüffend. Ich war dabei, als Biermann seine Büchner-Rede hielt; merkwürdig, daß ein solch harmloses Wort wie Arschloch dann mehr Empörung verursachte als die schlimme Realität der letzten Jahrzehnte, in denen solche Arschloch- Verhaltensweisen ins Kraut schossen. Seltsam diese Täternähe deutscher Innerlichkeit...

Es besteht die große Gefahr, daß die Unbelehrbaren in Ost und West sich in einer unheiligen Allianz zusammenfinden, die sich auch noch links-engagiert nennt, in Wahrheit aber eher verstaubt und konservativ ist, sofern überhaupt noch Ideologien eine Rolle spielen und nicht handfeste andere Interessen. Aber selbst auf dieser „hohen Ebene“ der Gedanken dominieren die Nekromanten: Als wäre das Leben nach der deutschen Einheit nicht schwierig und interessant genug! Aber nein, die Deutschen suchen immer nach einer Idee, für die sie sterben dürfen. Könnten sie nicht zur Abwechslung mal etwas finden, für das sie leben wollen?

Das muß an ihrer ganzen heroisch-verquasten Mythologie liegen, der Affinität für Dunkles, Nebulöses und der Verketzerung des Hellen, Transparenten als oberflächlicher Ablenkung. Trotz aller unlösbaren Tragik, über die wir eben sprachen: Können es die Deutschen nicht lernen, das Leben um seiner selbst zu genießen, so wie es die romanischen Völker seit jeher tun? Immer muß es das Absolute sein, das ewige Suchen nach neuen Todesmotiven. Und das braucht natürlich Statik. Leute, die da mittendrin weglaufen, sind logischerweise verdächtig.

Leute, die geblieben sind, fühlen sich durch Leute, die gegangen sind, bedroht. Sie polemisieren gegen Anschuldigungen und Vorwürfe, die ihnen vielleicht gar niemand gemacht hat, um so besser moralisch auftrumpfen zu können. Und die Mitläufer unter ihnen werden es schließlich niemals verzeihen, daß es eben immer welche gab, die nicht mitliefen, die weggingen oder dablieben und sich der Lüge verweigerten.

Das gilt für den Osten. Wie sah es aber im Westen aus? Ich denke da an Leute wie Walter Jens, die ja prägend für ein gewisses intellektuelles Milieu sind.

Jürgen Fuchs erklärte das einmal mit der deutschen Vergangenheit. Das scheint mir logisch: Man hat ein Restgefühl von Schuld und Versagen gegenüber jenen Kommunisten, die in der Nazizeit eingesperrt waren, während man selbst vielleicht in dieser Zeit studieren konnte. Als diese Kommunisten dann in der DDR zur Macht kamen und neues Unrecht schufen, war man zu beschäftigt mit der Aufarbeitung der braunen Vergangenheit der Bundesrepublik, als daß man nach beiden Seiten blicken konnte und wollte.

Und dabei natürlich stets das redliche, aber heute nicht mehr besonders intelligente Argument, daß man doch nicht Antikommunist sein könne, wenn die Nazis das doch auch waren. Da haben wir unsere Logik von vorhin wieder am Werk. Selbstbestrafung oder Rache an den Vätern – zuerst ehrliche Haltung, jetzt nur noch Pose. Weshalb lügt man sich so konsequent um jedes unabhängige Denken herum? Diese Unfähigkeit hat sich ja selbst in die Germanistik eingeschlichen: Die Exilforschung ist noch immer deren Stiefkind und existiert nur am Rande, ohne die geringste Anteilnahme der Öffentlichkeit.

Da hat auch der Westen eine Menge wiedergutzumachen. Denn Antistalinismus war und ist, mehr oder minder bewußt, bei vielen Intellektuellen ein Verdachtsmoment. Aber jetzt werden Leute wie ich wieder stubenrein, man wendet sich ihren Erfahrungen zu, entdeckt ihre Bücher wieder; es ist alles recht seltsam...

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