Neue Wege zur Tarifflucht

■ Für die Gewerkschaften ist der Tarifbruch Teil einer Strategie, die Bindungskraft von Tarifverträgen zu relativieren

Seit die Industriegewerkschaft Metall in einem überraschenden politischen Schwenk vor zwei Wochen angekündigt hat, sie werde die tarifvertraglich vorgesehene Lohnangleichung in der ostdeutschen Metall- und Stahlindustrie notfalls auch ohne neuen Flächentarifvertrag „Betrieb für Betrieb“ durchkämpfen, werden die Arbeitgeberfunktionäre von Gesamtmetall nicht müde, ihre Treue zum Prinzip des Flächentarifvertrags zu beteuern. Gesamtmetall-Präsident Hans-Joachim Gottschol und sein Hauptgeschäftsführer Dieter Kirchner erklärten die vertragswidrige Aufkündigung des Tarifvertrags in der ostdeutschen Metall- und Stahlindustrie zu einem einmaligen Vorgang, der nur auf die Krisenentwicklung in Ostdeutschland zurückzuführen sei und auf dieses eine Mal beschränkt bleiben solle. Für Westdeutschland stünde eine ähnliche Flucht aus dem Tarifvertragssystem keineswegs zur Debatte, und auch für Ostdeutschland strebe man die Rückkehr in die Bindung des Flächentarifs an.

„Daß es der Gewerkschaft schwerfällt, das zu glauben, kann ich verstehen“, kommentierte der als Vermittler vor drei Wochen gescheiterte sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf in einem Leserbrief an die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Denn nicht nur im aktuellen Konflikt sprechen viele Signale aus den Unternehmerverbänden und aus der Politik dafür, daß zumindest ein Teil des Arbeitgeberlagers einen Strategiewechsel ansteuert: der Flächentarifvertrag als dominierendes Prinzip der industriellen Beziehungen in der ganzen Bundesrepublik soll ausgehöhlt oder gar außer Kraft gesetzt werden. Was die ostdeutschen Metallarbeitgeber als neuen Flächentarifvertrag in Ostdeutschland anbieten, neun Prozent mit zusätzlicher Öffnungsklausel nach unten, hebelt das entscheidende Moment tarifvertraglicher Bindung aus: die für alle abhängig Beschäftigten einer Branche gültige Garantie eines einklagbaren Mindeststandards.

Daß dies nicht nur die ostdeutschen Lohntarife betrifft, sondern auch für Westdeutschland diskutiert wird, offenbarte kürzlich der stellvertretende Südwestmetall- Vorsitzende Ernst Krauss. Den aktuellen Konjunktureinbruch könnten viele Betriebe noch durch Anrechnung übertariflicher Leistungen auffangen, meinte er Anfang April. Wenn aber diese Verfügungsmasse aufgebraucht sei, könne bei der für 1994 vorgesehenen letzten Stufe der Arbeitszeitverkürzung von 36 auf 35 Wochenstunden auch an eine einseitige Tarifkündigung nach ostdeutschem Muster gedacht werden.

Angestrebt ist die einseitige Revision

Auch hier wieder dasselbe Muster: In dem mehrjährigen Stufenplan über die Verkürzung der Wochenarbeitszeit gibt es für den Fall einschneidender wirtschaftlicher Veränderungen eine Revisionsklausel, die nur im Einvernehmen mit beiden Tarifparteien wirksam werden kann. Verweigert sich die Gewerkschaft dem Arbeitgeberverlangen, die letzte Stufe der Arbeitszeitverkürzung zeitlich zu strecken, muß sie in Kraft gesetzt werden. Eine einseitige Aufkündigung des Tarifvertrags ist nicht möglich, es wäre Vertragsbruch. Gesamtmetall- Präsident Hans-Joachim Gottschol dementierte zwar eine derartige Absicht, wollte sie aber für 1994 dennoch nicht völlig ausschließen: „Nur eine extreme Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage würde eine solche Kündigung des geltenden Tarifvertrages rechtfertigen“, meinte er am letzten Wochenende zu Bild am Sonntag. Mit dieser Begründung wurden auch die ostdeutschen Tarifverträge umgestoßen.

Für den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) ist der aktuelle Tarifvertragsbruch in Ostdeutschland nur ein Element innerhalb einer umfassenderen Strategie von Arbeitgebern und konservativen Regierungspolitikern, die Bindungskraft tariflicher Normen in der BRD auszuhöhlen:

– Die Anordnung der Treuhand an die in ihrem Besitz befindlichen Betriebe, im aktuellen Konflikt entsprechend dem Arbeitgeberangebot höchstens neun Prozent, bei besonderen betrieblichen Bedingungen jedoch noch weniger zu zahlen, läuft auf eine unmittelbare Parteinahme der Bundesregierung für die Arbeitgeber hinaus. Das gleiche gilt für die Verfügung der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit, wonach an das Tarifniveau gekoppelte Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz ebenfalls nur um neun Prozent erhöht werden sollen.

– Die immer wiederholte Drohung der Bundesregierung, Tariföffnungsklauseln (nach unten) gesetzlich zu erzwingen, zielt gesamtgesellschaftlich auf das, was die Arbeitgeber im aktuellen Konflikt für die ostdeutsche Metall- und Stahlindustrie durchboxen wollen. Es wäre das Ende der tariflichen Mindestsicherung für abhängig Beschäftigte in der Bundesrepublik.

– Viele Firmen haben in den letzten Jahren ihren Arbeitgeberverband verlassen. Auf diese Weise haben sie sich aller Verpflichtungen entledigt, die aus der Mitgliedschaft in einer Tarifvertragspartei erwachsen. Die Gewerkschaften sind gezwungen, in diesen Betrieben Haustarifverträge abzuschließen. Aber der unmittelbare Druck des Arbeitgebers schränkt die betrieblichen Durchsetzungsmöglichkeiten häufig ein.

– Immer mehr abhängig Beschäftigte werden in tariflich nicht gebundene „freie“ Tätigkeiten abgedrängt. Für Scheinselbständigkeit bei Werkverträgen und ähnliche „arbeitnehmerähnliche Tätigkeiten“ gilt nicht der zuständige Branchentarif, sondern das Diktat des Marktes.

Insbesondere die „Verbandsflucht“ oder auch der Verbandswechsel von Betrieben erfreuen sich wachsender Beliebtheit bei den Unternehmern. Der spektakulärste Fall war in den letzten Jahren der wankende Computerriese IBM, der seine Krise auch in Deutschland lieber auf amerikanische Art bewältigen möchte.

Für die Arbeitgeberverbände ist die Tarif- und Verbandsflucht ein zweischneidiges Schwert. Die Verschärfung des Arbeitskonflikts durch die Gesamtmetall-Zentrale in Köln hatte nicht zuletzt das verbandsegoistische Ziel, sich als schlagkräftige unternehmerische Interessenvertretung zu profilieren. Denn in Ostdeutschland sind viele Betriebe erst gar nicht in die Arbeitgeberverbände eingetreten, und andere spielten mit dem Gedanken, der zum 1.4. fälligen Lohnstufe durch Verbandsaustritt zu entgehen. Aber die Drohung der IG Metall, notfalls ganz auf Verhandlungen mit Gesamtmetall zu verzichten und ihre Forderungen einzelbetrieblich durchzusetzen, hat den Arbeitgeberfunktionären offenbar vor Augen geführt, daß ihre Konfliktstrategie verbandspolitisch auch nach hinten losgehen kann. Denn ein Arbeitgeberverband, der keine Tarifverträge mehr abschließt, ist weitgehend überflüssig. Martin Kempe