„Die Kollegen haben mir bestätigt: Sie sind streikbereit“

Die Belegschaft der Sächsischen Edelstahlwerke Freital bei Dresden läßt sich in drei Kategorien einteilen: Die verbliebenen 533 Aktiven werden vom neuen Investor bezahlt, die in der Warteschleife über das Arbeitsamt, und die Arbeiter im gekündigten Verhältnis stehen auf der Lohnliste der Treuhand. Die Interessenlage derer, die sich für den Streik ausgesprochen haben, ist daher, so Betriebsrat Klaus Ilgen, unterschiedlich. Eine Reportage aus dem Stahlwerk Freital  ■ Von Detlef Krell

Hauptbahnhof. Plauen. Potschappel. Deuben. Freital-Deuben ist der vierte Bahnhof hinter Dresden. Freital, „Die Vier“, die alte Stammkneipe der Stahlwerker, ist rund um die Uhr geöffnet. Hier welkt der Feierabend in die neue Schicht, und nur die Bierblumen blühen reichlich. „Das Stahlwerk bestreiken?“ ruft einer seinem Kumpel zu, „das könnse doch höchstens noch zusammenschieben.“ Es war einmal, daß „Die Vier“ in Freital für die vierte Schicht der Stahlstadt stand. Wer heute hier sitzt, hat Zeit, viel zuviel Zeit. Fünfhundert Leute arbeiten noch in dem Werk, das mitten in der Kleinstadt liegt — reichlich fünftausend waren es.

Der Nachrichtensprecher verkündet soeben das Ergebnis der Urabstimmung, da scheppert es im Spielautomaten. Zwei Hände voll Bares klingen im Schacht und werden johlend begrüßt. „Katrin, noch ein Bier.“ Und der sächsische IG- Metall-Chef sagt: „96,14 Prozent gingen an die Wahlurnen, so ein Ergebnis habe ich bisher nicht erlebt.“ Draußen, hinterm Bahngleis, verteilt sich die Spätschicht ins Werk.

Noch ist der Kaufvertrag nicht unterschrieben. Die Sächsischen Edelstahlwerke Freital GmbH gehören der Treuhand, gleichwohl im September ein Siegener Unternehmer überraschend verkündete, er wolle das hundertjährige Werk kaufen und dort eine neue, moderne Produktionslinie aufbauen. Zuvor hätte nicht mehr viel gefehlt, und Stahl Freital wäre tatsächlich zusammengeschoben worden. Es fehlte damals eigentlich nur, daß die KollegInnen ihr Los brav hinunterschluckten. Statt dessen besetzten sie im Morgengrauen den Dresdner Flughafen, einige tausend sächsische MetallarbeiterInnen standen ihnen zur Seite. Plötzlich waren doch noch Verhandlungen über eine Zukunft für Freital möglich geworden.

Konflikte mit dem Investor wären das Letzte, was die Freitaler jetzt brauchen könnten. Solange die Tinte unterm Kaufvertrag nicht trocken ist, stehen die 500 Arbeitsplätze lediglich auf dem Wunschzettel. „Schon möglich, daß er sich das anders überlegt. Die Stahlkrise, dann dieser Tarifkonflikt...“, erklärt Klaus Ilgen die Sorgen der KollegInnen. Seit 35 Jahren arbeitet er im Edelstahlwerk Freital. Auf der Parkbank am Werkstor erinnert sich der Betriebsrat und Sprecher des Personalausschusses an die Auseinandersetzungen der vergangenen Wochen, denkt laut nach über die Zukunft von Freital:

„Wir hoffen immer noch auf einen Kompromißvorschlag“

„Das Wahllokal war von 4.30 Uhr an geöffnet. Bis 9.30 Uhr hatten wir eine Wahlbeteiligung von 81 Prozent. Bis 17 Uhr kamen wir dann auf zirka 93 Prozent. Die Kollegen haben mir bestätigt, daß sie zur Durchsetzung ihrer Interessen streikbereit sind. Viele haben das auch öffentlich dokumentiert, die sind zur Stimmabgabe gar nicht erst in die Wahlkabine gegangen. Wir hoffen immer noch, daß durch das Ergebnis die Arbeitgeber zu einer Kompromißlösung bereit sind. Für uns ist es denkbar, dem Biedenkopfschen Modell zu folgen: daß unbedingt jetzt die Erhöhung der Löhne kommen muß, die Anhebung auf 80 Prozent, aber dann eine Streckung des Stufenplanes. Aber nicht die Kündigung des Stufenplanes.

Bis vor zwei, drei Wochen waren besonders die gutverdienenden Angestellten mit dem Vorschlag der Arbeitgeberseite relativ zufrieden. Aber als uns dann durch die Medien erklärt wurde, daß es ja nicht nur um die einmalige Erhöhung geht, sondern um den Stufenplan, gab es auch bei diesen Kollegen einen Denkprozeß. Den gewerblichen Arbeitnehmern war sowieso klar, worum es geht. Wenn man bedenkt, daß der Durchschnittsverdienst bei 1.200 Mark netto liegt, ist wohl verständlich, daß von vornherein Kampfbereitschaft dagewesen ist.

Herr W., der das Werk hier übernommen hat, der hat von vornherein in seinen Kaufbetrachtungen den Stufenplan einbezogen. Er hat das Werk im November 92 erworben, im Januar ist es per Rechtskraft in seine Hände übergegangen. Aber der Kaufvertrag ist immer noch nicht zustande gekommen. Das hängt von überregionalen Entscheidungen ab. Von der EG, die bestimmt letztendlich, wo Stahlstandorte in Europa bleiben. Herr W. hat die Entwicklung der Löhne in seine Kaufentscheidung einbezogen. Für ihn ist es völlig unerheblich, was der Arbeitgeberverband immer sagt: Die Löhne kosten Arbeitsplätze. Wir fahren derzeit mit 533 Leuten. Ob die Löhne nun steigen oder bleiben – wenn noch mehr Personal abgebaut wird, dann geht eine Stahlproduktion nicht mehr. Ich will sagen, für den Arbeitgeber sind die Personalkosten nicht so entscheidend. Er baut seine Belegschaft, egal wie hoch deren Löhne sind, immer so auf, daß er so wenig wie möglich braucht.

Es war ja immer nur von Prozenten die Rede, und das ist von den Medien und westlichen Kollegen oft falsch aufgefaßt worden. 26 Prozent, so eine Tariferhöhung hätte der Westen noch nie gehabt, hieß es manchmal. Klar, das stimmt, die haben jetzt 3,1 Prozent verlangt. Aber man muß ja von den effektiven Zahlen ausgehen. Wenn wir jetzt mit dieser Forderung, 20 Prozent, wie sie ja nur für den Stahlbereich anstehen, immernoch bei etwas über fünfzig Prozent der Westlöhne stehen, dann, denke ich, ist sie nicht überspitzt.

Unsere Belegschaft ist derzeit in drei Kategorien eingeteilt. Wir haben die aktiven Arbeiter, das sind die 533 Mann, die werden von Herrn W. bezahlt. Dann haben wir noch die 350 Mitarbeiter in einem anderen Betriebsteil, die sind in der Warteschleife und werden bis 1995 über arbeitsmarktpolitische Maßnahmen bezahlt. Und dann haben wir noch Leute im gekündigten Verhältnis, bei denen irgendwann in diesem Jahr mal die Kündigung wirksam wird. Ihnen ist schon die Kündigung ausgesprochen worden, aber sie werden derzeit von der Treuhand bezahlt. Wir haben also drei Arbeitgeber: Herr W., das Arbeitsamt und die Treuhand. So, und selbst wenn Herr W. bereit wäre, die 20 Prozent zu zahlen, gäbe es die Diskrepanz zu den anderen Arbeitgebern. Die Interessenlage der Leute, die für den Streik sind, ist aus diesem Grund auch unterschiedlich. – Herr W. sieht die Sache, ich will mal sagen,

gelassen. Für ihn würde es nicht zum wirtschaftlichen Chaos führen, wenn der Arbeitgeberverband sagen würde: Wir geben der Forderung der IG Metall statt. Deshalb hat er auch geduldet, daß wir die Abstimmung im Betrieb machen. Der Betrieb wird zur Zeit rekonstruiert, bis 1995 sollen 250 Millionen Mark investiert werden. Unter diesen Umständen haben wir momentan eine zufriedenstellende Auftragslage. So daß wir, wenn hier längerfristig gestreikt würde, auch auf die Solidarität der westlichen Stahlkocher angewiesen wären.

Ich bin seit 1958 im Betrieb, kenne nur Edelstahl in meinem Arbeitsleben. So kenne ich auch jedes Aggregat im Werk, und von den verbleibenden Arbeitnehmern fast jeden persönlich. Ich bin vorher schon gewerkschaftlich tätig gewesen, als ehrenamtlicher Funktionär.

Es ist so, daß wir in den zwei Jahren praktisch nie zur Ruhe gekommen sind. Erst ging es nur um die Erhaltung des Werkes, jetzt um die neuen Probleme, da kann man nur lernen. Ich bin im Personalausschuß. Das ist nicht gerade sehr angenehm, etwa 4.000 Kündigungen im Anhörungsverfahren zu bewerkstelligen. Wir haben einen einigermaßen guten Sozialplan erreicht, wir haben die Leute begleitet bis zum Arbeitsamt. Da haben wir uns auch moralisch verpflichtet gefühlt, ihnen viele Wege abzunehmen.

Sicherlich waren die Erwartungen an die deutsche Einheit sehr hoch gewesen. Mir persönlich war von vornherein klar, daß das so nicht funktionieren kann. Aber was von den Leuten besonders negativ eingeschätzt wird, sind die laufenden Vertragsbrüche. Beispiel Tarifvertrag. Da wurden Versprechungen gemacht, aber daß es so einen sozialen Abstieg geben sollte, damit haben wir nicht gerechnet. Und das macht die Leute auch ziemlich resigniert. Aber wenn es so weitergeht, kann die Stimmung ganz schnell umschlagen, zur offenen Konfrontation.

Bisher war es ja so, daß die Kollegen sich mit ihrer Meinung sehr zurückgehalten haben, aus Angst, sie könnten bei der Entlassung die nächsten sein. Nun ist der Personalabbau im wesentlichen vollzogen, und die Kollegen haben auch gemerkt, daß sie nur etwas durchsetzen können, wenn sie zusammenhalten. Betriebsbesetzungen, die Besetzung des Flughafens, wenn wir das nicht gemacht hätten, dann könnten wir hier nicht sitzen.

Auch die Freitaler Bürger haben immer wieder erklärt, daß sie die Forderungen der Stahlwerker für berechtigt halten. Letztlich merken sie doch in ihren Läden oder Gaststätten: Wenn hier kein Geld verdient wird, dann können auch sie nicht verdienen. Wir wollen nicht um des Streikes willen streiken. Wenn ein vernünftiger Kompromißvorschlag kommt, dann kann man auch mit uns reden. Aber er muß ein gewisses Existenzminimum sichern. Wenn ich mir überlege: Meine Miete ist von 100 Mark auf 594 Mark gestiegen. Dabei kann ich mich als Angestellter über mein Gehalt noch gar nicht beklagen. Auch hat meine Frau ihre Arbeit noch nicht verloren.

Mein Bruder, zum Beispiel, ist hier Stahlwerker gewesen, hatte bedauerlicherweise einen Betriebsunfall und ist seitdem schwerbehindert. Nun sitzt er zu Hause mit 850 Mark netto. Bei der gleichen Miete wie ich. Da kann ich mich schon ganz gut in die Lage unserer Arbeiter versetzen.“