Rußland: Im Prinzip hoffnungslos

■ Die ökonomische Krise hat sich nach Ansicht deutscher Wirtschaftsforscher im letzten Jahr dramatisch verschärft

Berlin (taz) – Auch über ein Jahr nach dem Zerfall der Sowjetunion ist eine wirtschaftliche Stabilisierung in Rußland noch lange nicht in Sicht. Hyperinflation, steigende Staatsverschuldung, eine zerschlagene Arbeitsteilung und die anhaltende politische Krise im Land drücken die Wirtschaft förmlich zu Boden. Zunächst, soviel scheint sicher, wird alles nur noch schlimmer. Zu diesem Fazit gelangen zumindest das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, das Kieler Institut für Weltwirtschaft und das Institut für Wirtschaftsforschung Halle, die im letzten Jahr begonnen hatten, für das Bonner Wirtschaftsministerium die wirtschaftliche Situation Rußlands genauer unter die Lupe zu nehmen.

Ihr jüngster Bericht ist alles andere als ermutigend: das russische Bruttoinlandsprodukt (BIP) schrumpfte im vergangenen Jahr um ganze 19 Prozent, die Industrieproduktion brach über fast alle Branchen hinweg im gleichen Umfang ein und beschleunigte sich zum Jahresende noch. Die Arbeitsproduktivität dürfte um 17 Prozent gesunken sein, die Investitionen haben sich sogar halbiert.

Noch übler sieht es bei der Staatsverschuldung aus: das Haushaltsdefizit, von der russischen Regierung für 1992 mit 1.258 Milliarden Rubel auf neun Prozent des BIP schöngerechnet, dürfte nach Schätzungen der Experten inzwischen bereits 30 Prozent betragen.

Die Verbraucherpreise lagen im Dezember 1992 um 2.500 Prozent über dem Niveau des Vorjahres – bei Monopolbetrieben, die auf fast allen Märkten als Alleinanbieter herrschen, ist das kein Wunder. Die Hyperinflation treibt die Bevölkerung nicht nur zur Tauschwirtschaft zurück, sondern auch in eine zunehmende Verarmung, die inzwischen politisch bedrohliche Formen angenommen hat. Seit Mitte 1992 arbeiten die Rubeldruckereien durch die ungezügelte Geldpolitik auf Hochtouren und ziehen die Preise mit.

Der Staatswirtschaft, allen voran der Schwerindustrie, so die Wirtschaftsforscher, gelinge es im Zusammenspiel mit den Gewerkschaften immer mehr, den Staatsapparat und die Notenbank für ihre Zwecke einzuspannen. So pumpte die Zentralbank Hunderte Milliarden in die maroden Staatsbetriebe, die es bereits zweimal geschafft haben, durch den Staat von ihren Schuldenbergen befreit zu werden.

Das ist auch der Grund, daß der wirtschaftliche Niedergang bislang noch nicht voll auf die Arbeitslosigkeit durchgeschlagen habe: offiziell sind 600.000 von rund 74 Millionen Werktätigen arbeitslos gemeldet, da Betriebsstillegungen oder Massenentlassungen bisher Ausnahmen blieben. Obwohl der Staat noch immer Eigentümer nahezu aller wichtigen Betriebe und Banken ist, haben sich deren Interessen nach Meinung der Experten verselbständigt. Bei der derzeitigen politischen Konstellation ist trotz der Bankrottgesetzgebung nicht ausgeschlossen, daß der Staat erneut für rund zwei Trillionen Rubel aufkommt, mit denen die Staatsbetriebe momentan in der Kreide stehen.

Angesichts solcher Aussichten sind Regierungserklärung und wirtschaftspolitsches Programm des konservativen Ministerpräsidenten Wiktor Tschernomyrdin nicht viel mehr wert als das Papier, auf dem sie stehen. Der ohnehin unklare Reformkurs wird durch die Eigeninitiative von Institutionen und Gebietskörperschaften fast täglich konterkariert, die das Machtvakuum der Zentrale konsequent ausnutzen. Erwin Single