Rote Kabel, schwarze Schwänzchen

■ „Drei nach Neun“: Ein Besuch bei der Mutter aller Talkshows

Über den Menschen schweben große Lichter. Unter der Decke hängen weiße Täfelchen mit schwarzen Zahlen, wie bei der Tatortaufnahme einer Mordstube. Man ist hemdsärmelig. Es ist das Rascheln seidener Stoffe zu hören. Die Jacketts sind über Stullehnen abgelegt und werden im Laufe des Abends immer mal zurechtgezupft.

Es werden kühle Getränke gereicht. Auch beim Einschenken von Mineralwasser den Plastikbecher schräg halten. Man ist beim Fernsehen. Grüne Flaschen auf roten Tischen. Die Besucher murmeln. Solange noch nicht gesendet wird, darf gemurmelt werden. Einer lacht. Alle schauen sich um, ob vielleicht etwas Lustiges geschehen ist, und das Murmeln setzt aus. Aber es ist nichts Lustiges geschehen. Deshalb murmeln die Leute noch ein bißchen. Sie schauen auf ihre Uhren, damit es auch ja pünktlich beginnt. Schon fünf vor.

Fast alle wichtigen Menschen sind schon da. Das Personal des Senders erscheint beflissen und hat noch viel zu erledigen. Herr di Lorenzo betritt den Raum. Soso, das ist also der Herr di Lorenzo. Er ist eher klein und sieht aus wie ein sympathischer Eisverkäufer. Gleich fläzt er sich in einen Sessel. Er hat ein Papier dabei. Darauf hat er sich bestimmt die ganz besonders frechen Fragen notiert. An diesem Abend wird er wieder sehr freche Fragen stellen. Aber die wichtigen Menschen, die zum Sprechen gekommen sind, ahnen noch nichts.

Plötzlich wird gesendet. Juliane Bartel fragt Heide Simonis etwas. Heide Simonis hat einiges zu sagen. Jeder fragt sie nach wichtigen Dingen und weiß auch gleich die Antwort. Wenn Juliane Bartel nicht wäre. Sie weiß, wovon die Rede ist. Was sind tausend Linda de Mols gegen diese Frau?

Thomas Franke will nicht, daß der Wähler beschissen wird. Herr die Lorenzo hält sich da erstmal raus. Er blinzelt und streicht sich eine Strähne aus der Schläfe Dann stellt er eie freche Frage. So wie man einen Maggiwürfel in eine fade Minestrone wirft.

Dicke Kameras rollen um die Sprechgäste herum. Rote Kabel werden von blonden Damen getragen, damit es eine gelungene Sendung wird. Die Besucher schauen in die zahlreich aufgestellten Fernseher. Wie zuhause. Aber sie wollen natürlich überprüfen, ob man sie auch mal auf dem Bildschirm sieht, denn das ist bedeutsam.

Die Besucher sitzen auf harten Stühlen. Die Sprechgäste sitzen auf weichen Stühlen. Von der Sitzfläche hängt jedem von ihnen ein schwarzes Schwänzchen raus, wie Micky Maus eins hat. Das ist das Kabel vom Mikrofon.

Ein Herr aus München hat ein chinesisches Töpfchen von 1740 dabei. Er sammelt Töpfchen. Zur Belohnung kommt er ins Fernsehen. Wer Töpfchen sammelt ist ein besonderer Mensch.

Schwäbische Musikanten singen auf Englisch vom Sommer in Köln. Wahrscheinlich ist dies der multikulturelle Ansatz des Senders. Einer der Musikanten erzählt etwas vom Araschmah, damit alle bescheidwissen.

Man fächelt sich Luft herbei. Die Besucher hören sprachlos zu, wie die anderen reden. Herr Brebeck berichtet aus Sarajevo. Alle sind ergriffen. Herr Brebeck spricht, wie nur ein sehr besonderer Mensch sprechen kann. Heide Simonis weint. Echte Tränen sind im Fernsehen selten. Gutes Fernsehen und echte Tränen sind noch seltener.

Drei nach neun ist gutes Fernsehen. Die Legende und die Mutter der Talk Shows. Die Sendung läßt keinen Zweifel daran, daß sich Menschen noch etwas zu sagen haben. Es finden Gespräche statt, die Ereignisse sind. Viel mehr kann man von einem Fernsehsender nicht verlangen.

Gegen zwölf. Immer öfter schauen die Menschen auf die Uhr. Zuhause werden die Mon Cheries weich. Die grünen Flaschen auf den roten Tischen und die braunen Flaschen auf den grünen Tischen sind leer.

Es wird nicht mehr gesendet. Alle stehen auf. Viele zünden sich Zigaretten an. Weiße Rauchsäulen steigen senkrecht zur Decke hoch, wie nach einem Vulkanausbruch. Die Jacken der Besucher werden angezogen, damit man das Fernsehen ordentlich verlassen kann. Auf dem Flur klirren Autoschlüssel. Im Studio bleiben die wichtigen Menschen allein zurück und stehen beieinander, als sei in diesen zwei Stunden doch noch nicht alles gesagt worden, was gesagt werden mußte. Lutz G. Wetzel