: Reichlich ratlos durch den Sumpf
■ Mit „Titus Andronicus“ eröffnet das Theater am Halleschen Ufer seine Pforten
„So ein angenehmes Theater... Diese Truppe und ihr Theater sollten lange leben“, schrieb Friedrich Luft im September 1962 zur Eröffnung der Schaubühne am Halleschen Ufer. Seitdem ist einige Zeit ins Land gegangen, die Schaubühne hat Theatergeschichte geschrieben, und die Theatermanufaktur, ein zehn Jahre währendes, eher trauriges Kapitel, ist mit dem letzten Jahr beendet worden.
Die Veranstaltungsreihe „Tanzwinter“ und „Tanz im August“ hatten schon seit 1991 frischen Wind in die verstaubten Hallen geweht, nun ist mit neuem Namen, neuer Leitung und neuem Konzept auch eine neue Ära eingeläutet. Seit dem Weggang der Theatermanufaktur heißt das Haus – recht neutral – „Theater am Halleschen Ufer“. Hartmut Henne (55), der das Haus vor 22 Jahren zum ersten Mal betrat, um sich als Bühnenarbeiter ein Zubrot zum Studium zu verdienen, kehrt nun als Intendant zurück.
Dazwischen liegt ein Marsch durch die Stadt- und Staatstheater als Regieassistent, Dramaturg und zuletzt sechs Jahre als künstlerischer Betriebsdirektor am Schauspielhaus Frankfurt. Zu je vierzig Prozent will er nun den freien Berliner Theater- und Tanzgruppen die Möglichkeit gegeben, das Haus am Halleschen Tor zu nutzen. Die restliche Zeit ist Gastspielen vorbehalten. Henne will die politische und ästhetische Spitze der Szene in sein Haus einladen und bis Ende des Jahres einen festen Stamm von Gruppen an das Theater binden. Eva J. Heldrich (Theater) und Gabriele Pestanli (Tanz) werden sich in Berlin umsehen und ihn bei der Auswahl unterstützen. Dem Problem der ständigen Fluktuation und einer damit verbundenen Einbuße an künstlerischer Qualität will Henne entgegenarbeiten, indem er einigen Ensembles die Möglichkeit künstlerischer Arbeit mit fester Besetzung in Aussicht stellt.
Ein ehrgeiziges Projekt, denn der Etat von 1,1 Millionen reicht für die festen Betriebskosten und keinen Pfennig weiter. Zur künstlerischen Arbeit steht daher nur die Infrastruktur zur Verfügung: Probenräume, Auftrittsmöglichkeiten und Werbung – die Geldmittel müßten vom Beirat für freie Gruppen kommen oder aus anderen Quellen fließen. Das heißt, daß Henne nicht oder nur geringfügig geförderten Gruppen bloß erleichterten Zugang (sprich kostenlose Nutzung) zu dieser Infrastruktur anbieten kann. Für das kommende Jahr sollen beim Beirat eigene Projektmittel beantragt werden.
Soviel steht fest, das Tanztheater Rubato und die Tanzfabrik werden zum angestrebten Stamm des Hauses gehören und wohl auch die sich nach dem Bruch mit Leonore Ickstaedt neu konstituierende Truppe von Dance Berlin. Im Theaterbereich sind Aufführungen des Ensemble Theaters Berlin, des Theaters Zimzum und der Studiobühne FU geplant.
Mit der Wiederaufnahme von Shakespeares wenig geliebtem und wenig gespielten, blutrünstigen Schauerstück „Titus Andronicus“ in der Inszenierung des „Theater Affekt“ (Regie: Stefan Bachmann) wurde das Haus am Samstag eröffnet. Am Heinrichplatz sammeln sich im Lauf des Nachmittags Vernügungssüchtige, die auf Dunkelheit und die 1.-Mai-Rituale warten. Im Theater wird die Welt derweil in ein Schlachthaus verwandelt: Titus Andronicus verliert 21 Söhne in der Schlacht, schlägt nach seiner Heimkehr ins Römische Reich den Kaiserthron aus und dem Saturnicus zu. Damit setzt er einen Selbstlauf von Gewalt und Gegengewalt in Gang, in dessen Verlauf Hände und Köpfe abgeschlagen, Zungen herausgeschnitten und Kinder von mörderichen Eltern verspeist werden. Die zunächst noch kriegsrechtlich geregelte Rache steigert sich zu wilder Mordlust, und am Ende türmen sich Leichenberge auf der Bühne. „Shakespeare ist ein Spiegel durch die Zeiten, unsere Hoffnung eine Welt, die er nicht mehr reflektiert“ (Heiner Müller).
Zweifellos – das gelingt der Gruppe hervorragend – kann so viel Blut nur mit Komik zu Leibe gerückt werden: Da bringt Titus Andronicus (René Wolf) die sterblichen Reste seiner Söhne zerstückelt und in Plastikfolie eingeschweißt mit nach Hause, die debilen Söhne ringen in grotesker Pantomime um den leeren Thron (ein einfacher Stuhl), und die barbarische Gotenkönigin Tamora (Viola Morlinghaus) verdreht als Femme fatale mit einer Tanzeinlage den zivilisierten Römern den Kopf und läßt sie zu Schmalzmusik Polonaise marschieren.
Die ästhetischen Mittel, das Grauen auf die Bühne zu bringen, findet das Theater Affekt nicht. Reichlich ratlos waten die Schauspieler durch den Blutsumpf des Genozids, in einer mißlungenen Mischung aus Ernst und Unernst berichten Tamoras gotische Söhne von der Vergewaltigung Lavinias (Isabel Arlt), der Tochter des Andronicus, der sie die Zunge herausschnitten und die Hände abhackten, damit sie die Namen der Täter weder sprechen noch schreibend verraten kann.
Das Spiel verharrt in Harmlosigkeit, und wo der Ernst versucht wird, gelingt er nicht. An guten Einlagen, wie einem einmontierten Kleist-Zitat, mag man sich nicht mehr so recht erfreuen. Ob Hartmut Henne mit diesem Auftakt den selbst formulierten, politischen Anspruch eingelöst hat, ist fraglich. Zu sehen war Klamauk. Michaela Schlagenwerth
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen