Viel Zeit für zu lange Wege

■ Kurz vor Abschluß ihres Biologiestudiums zieht die spastisch gelähmte Viola eine nüchterne Bilanz / Recht auf freie Berufswahl?

„Ich möchte größtmögliche Un- abhängigkeit erlangen und erhalten.“ Unter dieser Prämisse begann Viola K. vor acht Jahren ihr Biologiestudium an der Freien Universität Berlin. Heute, kurz vor der Diplomarbeit, fällt ihr Urteil über die Uni jedoch recht nüchtern aus: „Ich würde nicht noch einmal in Berlin mit dem Studium beginnen.“ Die 29jährige ist spastisch gelähmt und gehört damit zu den auf den Rollstuhl angewiesenen StudentInnen der FU.

Ihre negative Bilanz hängt besonders mit den baulichen Mängeln der FU zusammen. Durch die weite Streuung der Fachbereiche über ganz Dahlem muß sie lange Wege zurücklegen. Allein der Fachbereich Biologie gliedert sich in dreizehn räumlich getrennte Institute. Die Universitätsbibliothek und die Mensa liegen zudem weit abseits. Für Viola wie für andere gehbehinderte StudentInnen bedeutet das lange Umwege und zusätzliche Erschwernisse.

An die Uni kann sie nur mit eigenem Auto oder einem Taxi kommen, denn weder im U-Bahnhof Dahlem-Dorf noch am Thielplatz existieren Aufzüge. Zudem besteht nach der letzten Streckenänderung der BVG nicht mehr die Möglichkeit, mit dem Bus der Linie 101 bis Dahlem-Dorf zu fahren.

Der Alltag an einer Massenuniversität ist für behinderte StudentInnen besonders mühsam. Die erste Station an diesem Tag ist die Universitätsbibliothek (UB). Vor dem Haupteingang erfährt Viola nur durch den freundlichen Hinweis einer Besucherin, daß es am neugebauten Nebeneingang einen Behindertenfahrstuhl gibt. Ein Hinweis für Ortsunkundige fehlt. Mit dem Fahrstuhl sind bequem die verschiedenen Ebenen der UB erreichbar. Der direkte Übergang zur Lehrbuchsammlung ist RollstuhlfahrerInnen jedoch durch zwei Treppenstufen im Verbindungsgang verwehrt. Um mit dem Fahrstuhl dorthin zu gelangen, muß Viola die UB verlassen, um das gesamte Gebäude fahren, sich beim Pförtner im Henry-Ford-Bau melden, um dann den Aufzug nach oben zu nehmen.

Auch das offene Magazin kann sie nur eingeschränkt nutzen, da vom Rollstuhl aus nur die untere Hälfte der Regale erreichbar ist. „Meine erste Anlaufstelle ist immer das Bibliothekspersonal“, sagt Viola. Das zeigt sich oft hilfsbereit und sucht Bücher heraus. „Insgesamt gesehen, ist die Literaturbeschaffung sehr schwierig. Man braucht viel Zeit für die längeren Wege, wenn diese einem überhaupt den Zugang ermöglichen.“

Nach zwei Stunden durch die Labyrinthe der UB ist die Mensa im Kiebitzweg der nächste Anlaufpunkt. Die Bordsteinkanten gegenüber dem Behindertenparkplatz sind abgesenkt und entsprechend markiert. Das hält einen Lieferwagen jedoch nicht davon ab, eben jene Absenkung zuzuparken. Auch Hinweise auf sein unberechtigtes Parken stören den Fahrer wenig.

Mensa und Cafeteria sind rollstuhlzugänglich gebaut, die Essensausgaben sind jedoch sehr mühsam, nur durch athletische Verrenkungen zu erreichen. Daß Gebäude problemlos befahren werden können, ist eine Ausnahme. Von den Biologieinstituten ist einzig die Pflanzenphysiologie als behindertenfreundlich einzustufen. An Gebäuden angebrachte Rampen sind „oftmals nur Zufallsprodukte aus Umbauzeiten“, weiß Viola aus Erfahrung.

Bauliche Änderungen lassen sich nur sehr schwer durchsetzen und verlangen viel Ausdauer der Betroffenen. Die Gefahr, sich anzupassen und nicht immer wieder auf Veränderungen zu drängen, ist groß. „Doch wir müssen viel mehr von den zuständigen Stellen einfordern, damit sich in Zukunft etwas ändert“, sagt die Studentin, die selbst lange Jahre in einer Behinderteninitiative an der Uni mitgearbeitet hat.

Engagement zeigen und immer wieder auf die Situation Behinderter an der Uni hinweisen, ist auch in Zukunft für Viola unersetzlich. Gedankenlosigkeit und Mängel in der Bauausführung gehören nämlich nicht der Vergangenheit an. Trotz behindertengerechter Planung sind die Türen im neugebauten Informatikgebäude zu schmal und für Rollstuhlfahrer nicht passierbar. Bei einem Begehungstermin vor Ort demonstrierten Viola und andere Rollstuhlfahrer die unmögliche Nutzung des Gebäudes.

„Man sagt, jeder hat das Recht auf freie Berufswahl. Aber wenn die Zugänglichkeit eines Gebäudes nicht gewährleistet ist, stimmt das so nicht.“ Kurz vor Abschluß ihres Studiums ist dieser Mißstand ein besonderes Problem, denn sie kann ihre Diplomarbeit nur an einem Institut schreiben, das für sie frei zugänglich ist. Da bleiben an der FU nicht allzu viele Möglichkeiten. Doch nach all den Unwägsamkeiten des Studiums will Viola jetzt, kurz vor Schluß, nicht aufgeben. Hella Kloss