Blindenstock oder Peitsche

■ Für die blinde Politologie-Studentin Sylvie ist das größte Problem der Zugang zur Literatur / Keine diskriminierenden Erfahrungen

Montag nachmittag, ein Uni- Alltag in Dahlem. Ein kniffeliges Referat wird vorgetragen, relativ leise, gespannte Aufmerksamkeit erfüllt den Hörsaal B in der Ihnestraße 21. Zwischen den Sätzen der Referentin sind nur wenige Geräusche zu hören: das Klappern von Stricknadeln, das Klicken eines Kugelschreibers und ein leises, ungewohntes Trommeln, systematisch und rythmisch. In einer der Reihen sitzt die blinde Sylvie R., die mit Hilfe ihres Schreibgerätes Notizen macht.

Sylvie, 22, gebürtige Pariserin und von klein an blind, lebt seit Oktober 89 in Berlin in einer „integrativen WG“, die sie von der Uni- Beratungsstelle vermittelt bekam. Nach einem gescheiterten Versuch mit Germanistik ist sie jetzt im 3. Semester für Politologie an der FU eingeschrieben. Hier habe sie schon viele Leute kennengelernt, durch diverse AG's und im (jetzt geschlossenen) Café Geschwulst. Auch viele Dozenten reagierten eher erstaunt und neugierig auf sie, überhaupt, an der Uni habe sie noch keine diskriminierenden Erfahrungen gemacht. Es ist ihr allerdings schon passiert, daß sich nach einem Seminar die Arbeitsgruppe verabredete, um sich gleich in einem Café zu treffen – und plötzlich waren alle weg, und sie stand alleine da. Ein Mobilitätstraining, das an der FU Berlin blinden Studenten zur besseren Orientierung angeboten wird, hat sie noch nicht mitgemacht. Sylvie hat lediglich unter Anleitung mit ihrem Stock geübt und hauptsächlich mit den Eltern gelernt, sich zu orientieren.

Die Probleme, die sie hier an der Universität erfährt, sind noch anderer Natur und zum Teil recht banal. Das schwierigste für sie ist der Zugang zu den benötigten Texten und Materialien. Das Literaturangebot, das für Blinde in der Braille-Schrift vorhanden ist, ist klein. Für alle deutschen Unis gibt es in Dortmund einen zentralen Katalog, der Cassettenbücher auflistet und Titel sammelt. Sylvie hilft sich also hauptsächlich selbst, viele Texte läßt sie sich von Freunden auf Band vorlesen und einen anderen Teil bei der Stelle für „Serviceleistungen für blinde und sehbehinderte Studierende“ in für sie lesbare Schrift übertragen.

Diese Servicestelle ist 1989 aus einem Projekt während des Uni- Streiks entstanden und lief damals als Projekttutorium mit unbestimmter Förderung. Mit der Aufnahme in den zentralen Universitätshaushalt im Oktober '91 sind die bezahlten Stunden für die Tutoren jedoch um ein Drittel gekürzt worden. Elisabeth Wunderl, Ansprechpartnerin in der Servicestelle, erläutert den Übertragungsvorgang: Mit Hilfe eines Scanners wird die möglichst deutliche Schwarzschriftvorlage in den PC eingelesen, dann die Lesbarkeit der Schriftzeichen am Bildschirm „trainiert“ und schließlich der Text auf speziellem Papier in Braille- Schrift ausgedruckt. Im Vergleich zu einer gewöhnlichen Kopie wird hier viel mehr Material benötigt; Eine Vorlagenseite ergibt fast drei dicke Braille-Seiten, und der Ausdruck einer Seite dauert eine Minute. Trotz der aufwendigen Bearbeitung wird diese Übertragungsmöglichkeit von allen fünfzehn blinden Studenten an der FU genutzt.

Mit ihrem eigenen transportablen Schreibgerät mit Braille- Zeile, das sie an den PC zu Hause anschließen und mit dem sie auch für Sehende ausdrucken lassen kann, hat Sylvie ein unverzichtbares Hilfsmittel. „Damit kann ich schneller schreiben als du“, schmunzelt sie. Für dankbare Freunde tippt sie damit ab und an deren Hausarbeiten. Wenn sie jedoch in den Lesesaal der Instituts- Bibliothek möchte, darf sie nicht ihre Tasche mit dem Gerät mitnehmen, um zu verhindern, daß Bücher gestohlen werden. Es ist auch schwierig, sich aus einem nur dort zu benutzenden Buch vorlesen zu lassen, weil im Lesesaal nicht laut gesprochen werden darf. „In der UB sind sie jetzt schon netter geworden, die füllen meine Leihscheine selbst aus und haben mir angeboten, mich anzurufen.“

Die zierliche Studentin weiß, daß sie auch auf sich aufmerksam machen muß, um etwas zu erreichen. Sie traue sich nur wenig zu sagen, auch auf Dozenten zuzugehen. „Ich bin kein Typ, der die Leute anspricht. Jeder Blinde hat seine Art, seine bestimmten Empfindungen. Du kannst das nicht verallgemeinern, das hängt sehr von deiner Persönlichkeit ab.“ Sie fühle sich diskriminiert, aber nicht als Behinderte, sondern „als kleine Frau in der U-Bahn“, bei zu hohen Stangen, und ohne nach Hilfe fragen zu wollen, fühle sie sich dann „wie auf einem Segelboot“. Sie möchte auch nicht unbedingt auf einen Sitzplatz Anspruch haben. Neulich saß sie dann auf einem Platz und wurde von der Seite gefragt, ob sie denn einen Stock oder eine Peitsche in der Hand hätte. Die sprachlose Sylvie wünschte sich in diesem Moment, daß es eine Peitsche sei. Sabine Schreiber