Fahrt in die Grube

Die 39. Internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen gingen zu Ende  ■ Von Christof Boy

Oberhausen hat sich feingemacht, sicher nicht für die Internationalen Kurzfilmtage. Es sieht eher nach Ehrgeiz aus, auf keinen Fall so wie eine Ruhrgebietsstadt zu wirken, dabei aber zu übersehen, daß das Gesicht einer Stadt im Revier immer anders war als ihr von außen eifrig produziertes Klischee. Auch nach Oberhausen haben Stadtplaner jetzt die Mysterien der Vereinheitlichung deutscher Stadtarchitektur transportiert. Der Slogan: Strukturwandel. Die Folge: Beliebigkeit. Bochum, Dortmund, Oberhausen, überall das gleiche Bild.

Was Oberhausen erträglich macht, sind die Widersprüche, die bei diesem Bemühen um Attraktivität entstehen. Immer noch riecht es verdächtig, wenn man von der A42 am Kühlturm vorbei Richtung Innenstadt fährt. Und auch in den Köpfen der Menschen sitzt die Vergangenheit fest. Während überall Public-Relations-Agenturen, Pressereferenten und Manager das neue, saubere Ruhrgebiet ankündigen, begrüßt Oberbürgermeister Friedhelm van den Mond die Gäste der Kurzfilmtage wie gewohnt mit „Glück auf!“. Der alte Gruß des Bergarbeiters, kein größerer Anachronismus ist denkbar zwischen dem alten und noch nicht erneuerten Image der Industrieregion. Vielleicht hat sich der Mann gedacht, daß es im Kino zugeht wie bei einer Fahrt in die Grube. Der Zuschauer fährt ins Dunkel, immer tiefer ins Ungewisse, bis sich auf der Leinwand endlich etwas abzeichnet – ein Licht am Ende des Tunnels. Unfreiwillig hat der Oberbürgermeister mit seinem Grußwort das geheime Motto des diesjährigen Festivals getroffen: das alte Mißverständnis, man könne die Geschichte begraben und völlig neu anfangen. Genau das Gegenteil zeigen die Filme: neue Widersprüche unter den zugeschütteten, neue Grenzen hinter den gefallenen, neue Aufbrüche nach hundert vergeblichen.

An einem bekannten Thema versucht sich auch Maria Ripoll. Eine Frau auf dem Dach in schwindelnder Höhe. Sie beugt sich nach vorn, fängt ihren fallenden Oberkörper noch einmal ab. Dann stellt sie sich wie ein Läufer zum Start auf, zählt bis zehn und sprintet auf die Dachkante los. Sie hat schon fast den Boden unter den Füßen verloren, als sie zurückgerissen wird. Ein Mann außer Atem. „Kill Me Later“ erzählt die alte Geschichte von Selbstmordversuch und Schutzengel – doch diese hier nimmt eine überraschende Wendung. Der Retter ist auf der Flucht vor der Polizei und reißt die Frau nur ins Leben zurück, weil er sie als Geisel braucht. Danach könne er sie ja töten, bietet er an.

Das Alte anders erzählen, dem Bekannten eine neue Bedeutung geben: Der Blick der Regisseure ist nicht mehr unschuldig wie beim ersten Mal, aber er ist geprägt von der Suche nach einer eigenen Form jenseits der abgenutzten Muster der Filmindustrie. Wenn schon alles gezeigt ist, muß man sich darauf konzentrieren, wie es gezeigt wird. Auch die Oberhausener Kurzfilmtage selbst sind ein Jahr vor ihrem vierzigsten Geburtstag dabei, ihre Position aus anderen Perspektiven zu betrachten. Sich schon immer als Knotenpunkt zwischen Nord und Süd, Ost und West begreifend, beschäftigte sich das Festival in diesem Jahr verstärkt mit der Verständigung zwischen den Völkern. Zum Glück hatte man auf schwammige Bekenntnisse zur multikulturellen Gesellschaft verzichtet und Mut zur Stellungnahme für die Verschiedenartigkeit fremder Welten gefunden: „Konfrontation der Kulturen“ hieß dieser Programmschwerpunkt – doch nicht nur wegen der wohlklingenden Alliteration.

Die Filme, die die Begegnung mit anderen, fremden Kulturen suchen, verweisen auf eine differenzierte Haltung gegenüber den globalen Wanderungsbewegungen. Es kann nicht mehr länger darum gehen, von Emigranten und Flüchtlingen eine perfekte Anpassung oder gar Assimilierung an die neue Umgebung zu verlangen. Erst im Ertragen der Unterschiede – und das bedeutet mehr als Toleranz – kann das Aufeinandertreffen andersartiger Kulturen fruchtbar sein.

Grenzgänge. Im Herantasten an die Grenzen des Darstellbaren wird manchmal überdeutlich, wie verschieden die Kulturen sind und wie unsinnig es ist, auf einer alleingültigen Sichtweise zu bestehen. Der japanische Regisseur Kudo Yoshihiro begleitet seinen Freund Yoshitaka Makino auf der Suche nach seiner Familie. Überfallartig wie ein Reality-TV-Team dringt Yoshihiro bei den getrennt lebenden Eltern ein und beobachtet die intimen Auseinandersetzungen. Was für die japanischen und für die deutschen Zuschauer das Berühren eines Tabus bedeutet, ist an diesem Film exemplarisch nachzuvollziehen. Der Drang des gekränkten Sohnes, sich vor laufender Kamera auszuziehen, wirkt auf deutsche Betrachter allenfalls lächerlich. Für das japanische Publikum jedoch sind die Genitalien des Mannes unkenntlich gemacht. In aller Ausführlichkeit weidet sich die Kamera dann an einer für das europäische Verständnis viel entwürdigenderen Situation: Makino uriniert auf seine Mutter, um seine Verachtung auszudrücken. Nach der Erniedrigung folgt die Versöhnung. Makino schafft es, seine Eltern wieder zusammenzubringen.

Das Neue im Alten suchen, darf jedoch nicht bedeuten, das vollkommen Neue einfach auszublenden. Über Jahre war das elektronische Medium Video verpönt, dann wurde es zaghaft zugelassen, den letzten Schritt vollzog das Festival in diesem Jahr: Jetzt laufen Tapes endlich auch im Internationalen Wettbewerb. Noch ein Versäumnis: Das Musikvideo als visuell gestützte Werbekampagne für Schallplatten und CDs ist sicher vor allem ein kommerzielles Produkt; doch sein Kunstaspekt wurde viel zu spät wahrgenommen. Jetzt, wo die Musikvideos ihren Stellenwert nach und nach einbüßen, haben die „Oberhausener Kurzfilmtage“ Videoclips als Form des Kurzfilms endlich anerkannt. Da man die Zuschauer wohl für die Ignoranz der Vergangenheit entschädigen wollte, hatte das Festivalteam gleich einen zweitägigen Themenschwerpunkt über schwarze HipHop- und Rap-Videoclips organisiert und das Podium mit hochkarätigen Experten besetzt.

Als unterhaltsamer Einstieg war die über mehrere Stationen zu verfolgende Metamorphose Michael Jacksons vom farbigen Soulsänger zum fast schon anämisch wirkenden, hellhäutigen Popstar zu verfolgen – Mutationen im Musikgeschäft. Von anderen Veränderungen sprach Diedrich Diederichsen, Musikkritiker-Papst der Zeitschrift Spex. Für ihn beruht Rezeption von Black Music in Europa auf einem grundlegenden Mißverständnis, das sich in der kritiklosen Übernahme bestimmter Attitüden schwarzer Jugendlicher in den Großstadt-Ghettos zeigt. Die amerikanische Musikkritikerin Tricia Rose sieht im hemmungslosen Kopieren schwarzer HipHop-Elemente durch weiße Bands und Fans eine neue Form von Rassismus, der nur an den Symbolen, nicht aber an den Inhalten interessiert ist. Dagegen sind für schwarze Jugendliche die Videos eine Möglichkeit, sich ihrer Identität bewußt zu werden – auch wenn es mit drastischen Posen und explicit lyrics geschieht. Tricia Rose verteidigt diese Äußerung schwarzen Selbstbewußtseins vor der Vereinnahmung durch weiße Musiker: „Fangt endlich damit an, eure eigenen Probleme zu suchen und sie dann in Musik auszudrücken.“

Oberhausen, das ist auch ein Mythos für den Beginn einer Hochphase des deutschen Films. Mit dem „Oberhausener Manifest“ bereitete 1962 eine junge Generation von Filmemachern dem Autorenfilm den Weg. Damals stritt man dafür, endlich die Produktionsmittel in die Hand zu bekommen, um seine Ideen umsetzen zu können. Inzwischen ist etwas anderes zum wichtigsten Faktor des Filmemachens geworden. Wenn eine amerikanische Teilnehmerin anmerkte, selbst in ihrer Heimatstadt New York habe sie keine Möglichkeit, sich so umfassend über Black Cinema zu informieren wie in Oberhausen, drückt das exakt das weltweite Dilemma aus. Wo überhaupt können Kurzfilme noch gesehen werden? Festivalleiterin Angela Hardt wünscht sich das Fortwirken des Geistes von Oberhausen vor allem im Bereich der Distribution. Wenn über eine Erneuerung des Oberhausener Manifests nachgedacht wird, muß es wohl darum gehen, die ungleichen Proportionen auf dem internationalen Filmmarkt zu verschieben.