Wer hat die Statur für die Kandidatur?

Sollte Björn Engholm heute das Handtuch werfen, hätte die SPD seit Helmut Schmidts Kanzlersturz 1982 nach Vogel, Rau und Lafontaine schon ihr viertes Aushängeschild verschlissen – diesmal schon vor der Konfrontation in einer Wahl.

Ende März schien es so, als habe Björn Engholm sich noch einmal einen Ruck gegeben. Er habe gelegentlich an Rücktritt gedacht, räumte der SPD-Kanzlerkandidat in dieser Zeit ein, jedoch nicht aus Überdruß an der Sache, sondern aus der Überlegung, was für die Menschen seiner nächsten Umgebung zumutbar und erträglich sei. Nun wolle er weitermachen, schon weil es nicht anginge, nachträglich das Opfer zum Täter zu machen.

Gut vier Wochen zuvor war über den SPD-Vorsitzenden und seine Partei gleich doppeltes Unheil hereingebrochen. In Kiel begann ein neues Kapitel der Barschel-Affäre, als die merkwürdige Übergabe der Ersparnisse des schleswig-holsteinischen Sozialministers Günther Jansen an Rainer Barschel nicht mehr dementiert werden konnte. Diesmal lautete die Überschrift: Was wußte Björn Engholm? In Hessen fuhr die SPD am 7. März bei der Kommunalwahl ein niederschmetterndes Wahlergebnis ein — eigentlich hatte alle Welt mit einem Wahldebakel der Union gerechnet. Das eine wie das andere allein hätte gereicht, um das SPD-Dauerthema wiederaufleben zu lassen: Bleibt der Zauderer Björn Engholm Parteichef und Kanzlerkandidat? Beides zusammen ließ die SPD zusammenschrecken. Während in der öffentlichen Diskussion die Vorzüge und Nachteile der potentiellen Ersatzbewerber diskutiert wurden, scharten sich Fraktion und Parteigremien vorerst um ihr Führungspersonal. Doch die Disziplin trug alle Züge der Ratlosigkeit, fast der Verzweiflung. In der Woche nach dem Wahlsonntag in Hessen beerdigte die Fraktion für kurze Zeit das Gezerre um Fraktionschef Hans-Ulrich Klose. Hatte der Parteilinke Horst Peter am 8. März im Spiegel noch beinah zum Sturz des Fraktionschefs aufgerufen – zwei Tage später war bei der Solidarpaktdebatte des Bundestags fast greifbar, wie groß das Bedürfnis der Fraktion war, ihrem Chef kräftig zuzujubeln. Die Fraktion, Parteivorstand und Präsidium gaben derweil die fälligen Solidaritätsadressen für den Parteichef ab.

Aber die Verfallszeiten für die Gültigkeit der jeweiligen Linie werden in der SPD immer kürzer – so auch in diesem Fall. Mitte März absolvierte die SPD-Spitze weit erfolgreicher als vermutet die Solidarpaktverhandlungen. Die öffentliche Bewertung drehte sich indessen zu einem guten Teil um die Frage, inwieweit der rheinland- pfälzische Ministerpräsident Rudolf Scharping nunmehr als qualifizierter Kanzlerkandidat anzusehen sei. Der amtierende Parteivorsitzende, als schleswig-holsteinischer Ministerpräsident beim Verhandlungsmarathon dabei, spielte keineswegs die Rolle des Kanzler- Gegenparts. Der machtfreudige Gerhard Schröder, schon seit längerem als Engholm-Alternative im Gespräch, wurde gleich von mehreren Seiten, mindestens vom Spiegel und der Woche, in Stellung gebracht. Der Ministerpräsident der rot-grünen Koalition in Niedersachsen hatte in der Parteidebatte um das Asyl das Kontra gegen Engholms Petersberger Schwenk angeführt – um sich am Ende in den Kompromiß mit der Union einbinden zu lassen.

„Ich führe die Partei auf meine Art.“ So lautete nicht erst in den letzten Wochen die Standard-Antwort Engholms auf die immer wiederkehrende Frage nach seiner Führungsfähigkeit. Der Parteichef mit Ministerkarriere noch in der sozialliberalen Endzeit der Regierung Schmidt stieg nach 1987 steil auf. Gegen die Intrigen und mafiosen Machtspiele der schleswig-holsteinischen Staatskanzlei unter Uwe Barschel, gegen den aufkommenden Parteiverdruß verkörperte Engholm die Hoffnungen auf einen anderen Politikstil, den der Lauterkeit, der Offenheit und Transparenz. Statt kalter Machtanmaßung den konsensorientierten Dialog, statt verordneter Politik Kommunikation und Moderation – das Modell Engholm war über die Grenzen des kleinen Nordlandes hinaus vielversprechend. Parteivorsitzender wurde er nicht aus Machtsehnsucht, sondern aus Verlegenheit. Spitzenenkel Oskar Lafontaine war in der Umbruchzeit 1989/90 als Kanzlerkandidat der SPD nicht nur erfolglos geblieben. Der Streit um Deutschland hatte zum Zerwürfnis zwischen den Altvorderen Brandt und Vogel mit Lafontaine geführt. So wurde 1991 in Bremen Björn Engholm gewählt, Anfang 1992 drängte ihn Fraktionschef Hans- Ulrich Klose zur Kanzlerkandidatur.

Keine einzige Woche ist seitdem ohne öffentliche Diskussionen über das Führungsdilemma der SPD vergangen. Björn Engholm wurde zum Ersten unter Gleichaltrigen, ohne jede Moderation durch die vorherige Generation. Jedes politische Thema, ob der Mehrwertsteuerstreit, die Haltung zu Maastricht, Asyl oder Solidarpakt, geriet unversehens auch zum Profilierungskampf. Was sich eine Partei wie die SPD in ruhigen Zeiten vielleicht erlauben kann und muß, um einen Generationswechsel zu vollziehen, das entwickelte sich in den unsicheren Verhältnissen der Bundesrepublik nach 1989 zum paralysierenden Zerfall. Denn nicht nur die Führungsverhältnisse wurden unklar, nach der deutschen Einigung rutschten der SPD vor allem die politischen Fundamente weg. Die Reformvorstellungen des Berliner Programms waren auf einmal wenn nicht obsolet, so doch wenig publikumswirksam. Der ökologische Umbau drängte sich nicht mehr auf die Tagesordnung. Dafür aber das Thema Asyl, weil die Grenzen nach Osteuropa offen waren; oder das Thema Bundeswehreinsätze, weil die Bundesrepublik in die Souveränität entlassen war. Davor versagten nicht nur Engholms Vorstellungen einer anderen politischen Kultur: In der Programmpartei SPD verschanzten sich die Flügel wieder hinter ihren alten Gewißheiten – um den Preis der Stagnation und des Zerfalls in Gruppen und Grüppchen.

Jeder ist sich selbst der nächste – das gilt denn auch in schwierigen Situationen für die Führungsgremien. Daß um Engholms Kieler Affäre ein gemeinsames Krisenmanagement von Präsidium und Parteivorstand nicht einmal in Ansätzen stattgefunden hat, ist unbestreitbar. Björn Engholm, der seinen konkurrierenden Spitzenkollegen nur wenig vertrauen konnte, entzog sich seinerseits in dieser Krise allen kritischen Nachfragen. Die Wahrheit über die Affäre in Kiel spielt nur eine Nebenrolle, die Dinge haben sich fast ohne Zutun der Akteure so entwickelt, daß nach Vogel, Rau und Lafontaine nun auch der vierte Herausforderer von Kohl scheitert – diesmal schon vor der Konfrontation in einer Wahl. Tissy Bruns, Bonn