Die Kiezstruktur wird zerschlagen

■ Das Beispiel Kreuzberg zeigt, wie immer mehr Industriearbeitsplätze abgebaut werden / Abwanderung in die neuen Bundesländer / Arbeiten und Wohnen im Kiez gehört der Vergangenheit an

Berlin. Wenn Reinhold Weißmann, Sekretär der IG Metall für Kreuzberg und Neukölln, auf die Liste der Betriebe blickt, die aus den beiden Bezirken ins Umland ziehen wollen, wird ihm ganz schwindlig. Besonders betroffen ist die Ritterstraße in Kreuzberg, die nach den Worten des Gewerkschafters „vor einer Deindustrialisierung“ steht. Jüngstes Beispiel vor Ort ist Aqua Butzke, erfolgreicher Hersteller von Sanitär-Armaturen und seit über 100 Jahren im Kiez. Etwa 40 von über 330 Arbeitsplätzen werden vom Werk in der Ritterstraße demnächst nach Hallersleben bei Magdeburg verlagert. Dort hat der Mehrheitsaktionär „DAL Georg Rost&Söhne GmbH&Co KG“ bereits ein Grundstück gekauft und will ein neues Unternehmen ansiedeln. Doch für die betroffenen Mitarbeiter kommt es noch schlimmer: Langfristig plant die Geschäftsleitung, in das brandenburgische Umland zu ziehen.

Auch beim Lichtschranken- Hersteller „Visolux“ – in Sichtweite von Aqua Butzke – stehen die Zeichen auf Abwanderung. In zwei Jahren soll das Werk mit seinen derzeit rund 450 Beschäftigten nach Stahnsdorf umziehen. Selbst der Kreuzberger Elektrohersteller DeTeWe (rund 2.500 Mitarbeiter) hat sich im Umland umgesehen. Von August an wird in einem völlig neuen Werk in Dahlewitz-Hoppegarten die hochmoderne Produktion von Telefonanlagen beginnen. Nur die Hälfte der rund 350 Arbeitsplätze, die in der Startphase vorgesehen sind, werden aus dem Stammwerk in Berlin mit in den kleinen brandenburgischen Ort mit hinübergenommen.

50 Firmen wollen noch 1993 ins Umland ziehen

Rund 50 Berliner Firmen, so berichtet die Wirtschaftsförderung Brandenburg GmbH, haben sich in diesem Jahr für eine Umsiedlung angemeldet. Ein Trend, der auch von einer bereits Ende 1992 veröffentlichten Umfrage der Industrie- und Handelskammer Berlin in Zusammenarbeit mit dem Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) und dem Zentralverband der Elektroindustrie (ZVEI) bestätigt wird. Von 103 befragten mittelständischen Unternehmen der Stadt denken 75 über einen Standortwechsel nach; davon haben sich wiederum 37 Prozent sogar schon für einen definitiven Wechsel ausgesprochen. Hauptargument der Unternehmen: Die abrupt weggefallene Berlin-Förderung und die Möglichkeit, sich auf der grünen Wiese im Berliner Umland in großem Maßstab ausdehnen zu können. Nach Meinung von IG-Metall-Sekretär Weißmann spielen auch die Schleuderpreise eine Rolle, zu denen die Treuhand Grundstücke verkauft. Zudem könnten die Unternehmen bis zu 56 Prozent bei Neuinvestitionen aus öffentlichen Töpfen finanzieren.

Weißmanns Kritik richtet sich vor allem gegen den Senat. Hier werde, so sein Vorwurf, das Sterben der Industrieregion „gelangweilt zur Kenntnis genommen“, oder man tröste sich mit der Hoffnung auf ein Dienstleistungszentrum Berlin und die Olympischen Spiele.

Im Hause des Wirtschaftssenators Norbert Meisner (SPD) wird hingegen auf einen Senatsbeschluß vom November 1992 verwiesen, nach dem 21 zusammenhängende Industrieflächen in der Stadt auch bei Neuansiedlungen dem produzierenden Gewerbe vorbehalten bleiben sollen. Eine Maßnahme, mit der die „Umwandlung und Umnutzung“ gestoppt werden soll, so Holger Hübner, Sprecher der Wirtschaftsverwaltung. Ob mit solchen Schritten in den Industriebezirken wie Kreuzberg oder Neukölln das bisherige Prinzip von „Arbeiten und Wohnen im Kiez“ beibehalten werden kann, wagt auch Hübner nicht einzuschätzen: „Wir setzen alles daran, die Unternehmen zu halten.“ Wie sehr diese Verzahnung noch für Kreuzberg gilt, zeigte eine Umfrage des Betriebsrates unter den Beschäftigten bei Aqua Butzke: 51 Prozent kommen mit öffentlichen Verkehrsmitteln, fast acht Prozent sogar zu Fuß zur Arbeit.

Hauptbetroffene sind Frauen

Hauptbetroffene der Abwanderung sind in vielen Bereichen – so bei Aqua Butzke und Visolux – Frauen. Daß sie den Arbeitsplätzen hinterherreisen, hält Weißmann von der IG Metall auf Dauer für „nicht zumutbar“. Zu groß sei die Doppelbelastung durch Arbeit und Haushalt, um die langen Anfahrtswege ins Umland aufzunehmen: „Da wird aus einer 36-Stunden-Woche schnell eine 70-Stunden-Woche – welche Frau kann das durchhalten?“ Severin Weiland