Das Hätschelstiefkind

■ Jetzt wird auch öffentlich-rechtlich gefeiert: Der von Kohl und Mitterand in die Medienwelt gesetzte Kulturkanal arte wird ein Jahr alt / Eine Zwischenbilanz

Die ARD-Intendanten haben eine neue Liebe entdeckt: den deutsch-französischen Kulturkanal „arte“. Nachdem kürzlich schon WDR-Chef Friedrich Nowottny das multinationale Fernseh-Novum unvermutet als einen Sender würdigte, der sich besser entwickelt habe, „als viele erwartet haben“, setzte der amtierende ARD-Vorsitzende und Intendant des NDR, Jobst Plog, jetzt gar zu einem ausgewachsenen Trommelwirbel für den Straßburger Kulturkanal an. Mit dem arte-Präsidenten Jérôme Clément, dessen Stellvertreter Dietrich Schwarzkopf und dem Generaldirektor des Belgischen Fernsehens, Robert Stéphane (dessen RTBF seit Januar mit drei Prozent bei arte vertreten ist), lud Plog in Hamburg zu einer vorgezogenen arte-Geburtstagsparty. Am 30. Mai 1992 ging das Kunst-Konstrukt, das zur einen Hälfte vom früheren französischen Kulturkanal La Sept und zur anderen von ARD und ZDF beschickt wird, erstmals auf Sendung.

„Angesichts der bevorstehenden Verschmelzung von 1 Plus und 3sat wird arte für uns immer wichtiger. Man muß sich darum kümmern“, begründete Plog den Sinneswandel. Man habe Zweifel gehabt, ob die komplizierte Konstruktion funktionieren könne. Die Koordinierung sei nicht immer einfach, „die Wege nach Europa sind eben ein wenig länger“. Dietrich Schwarzkopf: „Man soll ja einem Kind nicht seine Väter vorwerfen.“

Bisher wurde der zweisprachige Sender als „Kind der Politik“ abgetan – eine Art Kuckucksei, das Bundeskanzler Helmut Kohl und Staatspräsident François Mitterand den Herren der Ersten Reihe per Federstrich ins öffentlich- rechtliche Nest geschmuggelt hatten – und entsprechend lieblos behandelt. Das europäische Pionierprojekt mußte sich mit Mund-zu- Mund-Propaganda und einem Bauchladen voller kleiner Werbegeschenke für willige Zuschauer durchbeißen. Außer ein bißchen Anschub-PR in den öffentlich- rechtlichen Hauszeitschriften war bei ARD und ZDF für das Stiefschwester-Programm wenig drin: arte-Image- und Programmwerbung – wie sie für die eigenen Ableger 1 Plus und 3sat selbstverständlich ist – suchte man auf den Frequenzen der Ersten Reihe vergebens. Angeblich aus Kostengründen sollten kürzlich gar die Abendnachrichten „8 1/2“, eine der wenigen Sendungen, die in Straßburg von arte selbst produziert wird und die bisher sehr unter der Verweigerungshaltung der deutschen Anstalten zu leiden hatte, zugunsten einer Übernahme von „Euronews“ gekippt werden. Deshalb wäre es beinahe zum ersten multinationalen Streik der Fernsehgeschichte gekommen. Zuletzt nährten die ARD- und ZDF-Chefs, deren jüngstes Hobby bis vor kurzem ein eigener Infokanal war, selbst Gerüchte, das ungeliebte Adoptivkind der gemeinsam ausgeheckten Sparpolitik opfern zu wollen.

Doch das ist nun alles passé. Nach dem Wahlsieg der Gaullisten in Frankreich, denen Mitterands eilige Vergabe der früheren La Cinq-Antennenfrequenz an arte ein Dorn im Auge war, lobte der neue französische Regierungschef Edouard Balladur die TV-Erfindung seines sozialistischen Erzfeindes als „gutes Programm, und das soll auch so bleiben.“

Das mehrsprachige „Qualitäts- Programm eigener Art“ aus Straßburg (Schwarzkopf), das sich trotz häufiger Untertitelung und Verzicht auf Moderation durch einen kreativen Auftritt auszeichnet, hatte sich allerdings während seiner einjährigen Warmlaufphase auch als rentierlicher Spielplatz für seine Zieheltern entpuppt: Die arte-Spezialität „Themenabend“, aber auch der Sektor Film/Fernsehspiel und der ungewöhnlich breit gefächerte Bereich Dokumentation bezog in den ersten Monaten fast ausschließlich geeignete, bereits vorhandene Produktionen des ZDF und der ARD-Anstalten zum Zirka-Stückpreis von 100.000 DM aus dem arte-Etat. Der wird mit für ARD und ZDF ansonsten unerreichbaren Gebühren, zusammen 196 Millionen, bestückt. Auch wenn das Kabelprogramm noch lange nicht jeder Zuschauer sehen kann: aus Deutschland fließen je Fernsehnase monatlich 0,75 DM in das Projekt. Und im Straßburger Budget schlummern noch „Reserven, für schlechte Zeiten“.

Seit Herbst letzten Jahres strahlt der Kulturkanal verstärkt neue Koproduktionen aus, wie beispielsweise das Reitz-Epos „Die zweite Heimat“ des WDR oder die zweiteilige NDR-Lang-Dokumentation von Ralph Giordano „Israel, um Himmels willen Israel“. Dafür zahlt arte durchschnittlich 350.000 DM pro Film. Die französische La Sept, zu einem Viertel in Staatsbesitz, liefert 70 Prozent ihres Programmanteils als Eigenproduktion, wie Clément angab. Diese Refinanzierungsmöglichkeit der arte-Teilhaber nannte Plog „eine Motivation für die Anstalten“.

Nowottnys WDR und Plogs NDR halten mit 12,5 und 9,5 Prozent von allen ARD-Sendern die dicksten arte-Pakete. Zur Zeit wird sogar erstmals Publikumswerbung für arte gemacht. Sieben Wochen lang erscheinen jetzt im Spiegel, in der Zeit und der FAZ ganzseitige Anzeigen mit aktuellen Programm-Highlights. Die Aktion soll im Herbst wiederholt werden. Die Programmpresse, die den Sender mit kaum mehr als zehn Zeilen berücksichtigt, wird vom arte-Vize gescholten: „Darüber sollten sich die Leser dieser Zeitschriften beschweren.“

Demnächst will man Kleinanzeigen in der Tagespresse schalten, um einem der drückendsten Probleme des „Geheim“-Senders beizukommen: während in Frankreich arte seit September landesweit empfangen werden kann, sind bei uns die jeweiligen Frequenzen in den lokalen Kabelnetzen für viele potentielle arte-Zuschauer ein großes Fragezeichen.

Generell läßt die technische Reichweite in Deutschland, im kaum verkabelten Osten ganz besonders, zu wünschen übrig, was auch den französischen arte-Präsidenten Clément irritiert. Vor der Presse stellte Clément sich deswegen hinter „mon ami Plog“. Mit gewissem Erfolg: Der NDR-Intendant stellte arte die viel begehrte Abstrahlung über den neuen Supersatelliten Astra 1 C in Aussicht, der im August in Position gebracht werden soll und praktisch weltweiten Empfang garantiert. Allerdings, so Plog, sei das eine Kostenfrage, „man muß dann sehen, wo man an anderer Stelle spart“.

Inzwischen nimmt eine Reformkommission unter Leitung des ZDF-Mannes Fritz Ungureit die arte- Programmstrukturen unter die Lupe. Besonders in der Diskussion: Die Themenabende, in denen viermal wöchentlich über viele Stunden hinweg mit Film, Feature, Diskussion, Dokumentation und Cartoons zur Sache gegangen wird.

arte-Chef Clément hält das immer noch für eine gute Idee, „aber wenn es zu oft passiert, ist das eine schlechte Idee. Zwei pro Woche würden völlig ausreichen.“ Im Herbst soll darüber „einvernehmlich“ entschieden werden, so Schwarzkopf.

Währenddessen gehen die Straßburger jedoch selber immer wieder in Klausur. Zur Zeit, so Pressechefin Chantal Roque, tüftelt man wieder an etwas, was es bisher noch nirgendwo gab: multinationale, mehrsprachige Polit- Magazine. Im Mai soll's eventuell soweit sein. Ulla Küspert