■ Willys Enkel und die Endlosschleife der Ohnmacht
: Schröder-Roadshow oder was?

Mitten im blühenden Mai wird das linksorientierte Publikum, seit 1989 sowieso schon mit Identitätsproblemen gestraft, neuerlich von Novembergefühlen überwältigt. Der schmale Restbestand politischer Hoffnungen sieht sich immer mehr gezwungen, in virtuelle Vergangenheiten abzutauchen, als Enkel noch Enkel waren und Großväter noch Großväter, die Zeit also noch irgendwelche Versprechungen bereithielt. Das war einmal. Nostalgische Erinnerung gilt nun den Toten, Verdammung aber den Lebenden, die vor lauter „öffentlichem Gebrauch der Vernunft“ ihren ganz persönlichen Einsatz vergessen haben, die sich weder für die Toskana noch für die Macht an Rhein oder Spree entscheiden können, weder originell denken noch zukunftsweisend handeln.

Statt dessen „bauen“ sie zwischen Kiel und Saarbrücken in regelmäßigen Abständen „Mist“ (Engholm), machen „Fehler“ (Lafontaine), sind sauer über „mangelnde Solidarität“ der Partei und ziehen sich trotzig in die Immobilienbranche (Momper), den Springer-Konzern (Hauff), ins Bankgeschäft (Wolfgang Roth) oder die Autoindustrie (Steger) zurück. „Weiches Wasser bricht den Stein“, sangen sie einst gemeinsam und ertrinken nun – jeder für sich und Gott gegen die SPD – in den trüben Fluten, die ihre sanften, denkfabrikgestützten und stets recycelbaren Kommunikationsstrategien mit dem Wähler und der Wählerin erzeugt haben. Während die „unheimliche Witwe“ (Stern) Seebacher-Brandt die sozialdemokratische Erbschaft des Jahrhunderts fleddert, sichert die historische Mesalliance von Rudi Dutschke und Willy Brandt Helmut Kohls vierte Kanzlerschaft, hart bis an die Jahrtausendwende. Die böse List der Geschichte hat dafür gesorgt, daß der Marsch durch die Institutionen, parlamentarischen Hinterbänke und Barackengänge brav absolviert wurde, ohne sich wirklich, also historisch-dialektisch zu erfüllen.

All die Zukunftsoptionen, Grundsatzpapiere, sozialökologischen Perspektiven und Umsteuerungspläne stapeln sich in den Hinterzimmern, während auf der politischen Bühne die Köpfe rollen. Die sozialdemokratische 68er-Generation hat es geschafft, die politisch brisanten Themen der Zeit in den Schatten einer unendlichen Personaldebatte treten zu lassen, die nach der Methode der zehn kleinen Negerlein jeden einzuholen scheint. Jene, die stets von „Inhalten“ redeten, sind vor allem mit sich selbst beschäftigt. Auch nach dem Tod des Patriarchen trauen sich die Enkel nicht, das zu wollen und zu wagen, was sie anzustreben vorgeben: die demokratische Macht im Bund zu übernehmen, wofür mehr Risiken eingegangen werden müssen, als Provinzfürsten gemeinhin lieb ist.

Nach dem Prinzip „Jeder darf mal dran“ wechseln sich seit 1982 die SPD-Kanzlerkandidaten ab, wie früher die Beziehungskisten in der Wohngemeinschaft. Noch bevor überhaupt die Probe aufs Exempel einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung – „Gut für unser Land“ (Engholm 1991) – gemacht werden kann, ist der 1987 gescheiterte Kanzlerkandidat Rau schon wieder kommissarischer SPD-Vorsitzender, schließt Altkanzler Schmidt generös eine Wiederholung der Geschichte aus – „Sperrfrist 15 Uhr“ – und erinnert Bundesgeschäftsführer Blessing daran, daß die SPD 130 Jahre alt ist und deshalb auch die nächsten Monate überstehen wird.

Doch die durchschnittliche sozialdemokratische Kanzlerkandidatenzeit hat sich dramatisch verkürzt. Wie lange wird Schröder, der neue Held und Hoffnungsträger, brauchen, um vom Thron zu fallen? Wird dann Heidi Wieczorek-Zeul eine Chance bekommen? Oder doch erst Scharping? Ist dann Renate Schmidt dran, Heide Simonis oder Herta Däubler- Gmelin, am Ende gar Hans Eichel? Oder doch noch einmal Oskar? Nur Eingeweihte wissen, daß 1.000 Jahre Potsdam mehr zählen als 130 Jahre SPD. Manfred Stolpe heißt der Geheimtip. Bis gestern mittag riet er Engholm „durchzuhalten“. Und: Den Test der Tests, den Spiegel-Test, hat er längst bestanden. Reinhard Mohr

lebt als Publizist in Frankfurt/Main