„Wir wollen Erfahrungen bündeln“

■ Interview mit Ingrid Lottenburger, Mitinitiatorin des geplanten Instituts „Anna O.“

Ingrid Lottenburger (AL) koordiniert in Berlin die Arbeit von „Scheherazade“, einem Zusammenschluß von Frauen, der sich während des Golfkriegs als internationales Aktionsbündnis gegen den Krieg gründete. Zur Zeit organisiert „Scheherazade“ in erster Linie Hilfe zur Selbsthilfe für zivile Kriegsopfer und die Opfer sexueller Gewalt im ehemaligen Jugoslawien. Ingrid Lottenburger ist Mitinitiatorin des „Instituts Anna O.“, einem geplanten Aus- und Fortbildungsinstitut für Frauen aus aller Welt, die in ihren Heimatländern Frauentherapie- und Krisenzentren zur Bewältigung sexueller Gewalt aufbauen wollen.

taz: Wie kam es zur Idee für ein „Institut Anna O.“?

Ingrid Lottenburger: In vielen Ländern der Erde werden Oppositionelle und deren Angehörige gefoltert, um ihren politischen Willen zu brechen. Bei Frauen ist Folter fast immer mit Formen sexueller Gewalt verbunden. Und auch als Mittel der Kriegsführung sind Massenvergewaltigungen wie im Krieg in Ex-Jugoslawien gang und gäbe. Gleichzeitig mußten wir aber feststellen, daß die Hilfe für Frauen zur Bewältigung der Folgen sexueller Gewalt völlig unzureichend ist. Das Berliner „Behandlungszentrum für Folteropfer“ ist bisher bundesweit ein in dieser Form einmaliges Projekt. Doch die Möglichkeiten, auf die spezifischen Probleme vergewaltigter Frauen einzugehen, sind hier begrenzt. Im Behandlungszentrum arbeiten in erster Linie männliche Psychologen. Die Chance, daß Frauen sich bei einer solchen Therapie unbefangen äußern können, sind schlecht.

Schon als Neunjährige habe ich 1945 mitbekommen, wie Frauen versuchen, sich vor Vergewaltigungen zu schützen. Auch wenn meine Mutter und ich nicht vergewaltigt wurden, ist mir dennoch lebhaft in Erinnerung, in welcher Angst Frauen lebten. Ich wußte, was passierte. Eine Frau erhängte sich, nachdem sie vergewaltigt wurde, weil sie nicht wußte, wie sie weiterleben sollte. Alle, die ich kennenlernte, hatten erst mal einen kleinen Knacks weg — wenn man das so sagen kann. Das heißt, viele brauchten Jahre, bis sie sich von dem Gewalterlebnis erholten.

Das spricht alles für die therapeutische Arbeit mit Frauen, die sexueller Gewalt ausgesetzt wurden. Warum aber ein Aus- und Fortbildungszentrum?

Eigentlich macht es wenig Sinn, Frauen zum Beispiel aus Bosnien hier zu therapieren. Wir reißen sie aus ihrem Kulturkreis heraus, haben möglicherweise gar keine Antenne für kulturell bedingte Probleme, die die Frauen haben.

Daher kamen wir auf die Idee, alle Erfahrungen der Anti-Gewalt- Arbeit von Frauen zu bündeln und sie in ein Aus- und Fortbildungszentrum für Frauen aus aller Welt einfließen zu lassen. Frauen aus dem ehemaligen Jugoslawien oder anderen Ländern, die vorhaben, in ihrem Land ein Frauentherapiezentrum aufzubauen, sollen die Möglichkeit bekommen, von den Erfahrungen der hiesigen Anti- Gewalt-Arbeit mit Frauen zu profitieren.

Wieso der Name „Anna O.?“

Anna O. ist das Pseudonym von Bertha Papenheim, einer hoch politischen Frau, die von 1859 bis 1936 in Frankfurt lebte und arbeitete. 1904 gründete sie den Jüdischen Frauenbund und befaßte sich hauptsächlich mit dem internationalen Mädchenhandel, denn damals wurden jüdische Mädchen nur allzu oft an Freudenhäuser verkauft. Außerdem setzte sie sich engagiert für die berufliche Ausbildung von Frauen ein, um damit Status und Selbstbewußtsein von Frauen zu stärken. Das Pseudonym „Anna O.“ hatte sie als Klientin des Psychoanalytikers Joseph Breuer, einem Kollegen von Sigmund Freud. Sie unterzog sich als erste Frau einer Psychoanalyse.

Welche Inhalte soll das „Institut Anna O.“ vermitteln?

Wichtig für die Arbeit sind medizinische und juristische Aspekte, aber auch die jeweilige politische Situation vor Ort, oder religiöse Aspekte müssen berücksichtigt werden. Außerdem haben wir in der Bundesrepublik größere Möglichkeiten, ausländischen Frauen Finanzquellen zu eröffnen, zum Beispiel über die EG. Ich scheue mich davor, das Ganze als Schule zu bezeichnen. Wir wollen Frauen aus dem Ausland mit unseren feministischen Positionen und Sichtweisen bekannt machen, dabei aber vor allem auch in einen Erfahrungsaustausch treten. Ich bin sicher, es gibt trotz vieler kultureller Unterschiede ein gemeinsames Vielfaches bezogen auf die Erfahrungen mit sexueller Gewalt. Interview: flo