Karl Marx begegnet Karl Marx

Heute wäre der Mann mit dem Bart 175 Jahre alt geworden / Freidenker-Verband widmet dem Jubilar in Neukölln eine ironische Ausstellung  ■ Von Severin Weiland

Neukölln. Würde Karl Marx noch leben, er hätte am heutigen 5.Mai seinen 175. Geburtstag sicherlich im Café Rix genossen. Weil das Alter bekanntlich versöhnlich stimmt, hätte er auch gelassen das fröhlich-bunte Transparent betrachtet, das ihm in der Sprache der englisch-amerikanischen Imperialisten im hohen Saal des ehrwürdigen Baus in Neukölln einen „Happy Birthday“ wünscht. Nach einem kräftigenden Milchkaffee hätte der umstrittene große Philosoph sich umgesehen und sicherlich mit Neugierde und Erstaunen die Exponate betrachtet, die sieben Mitglieder des „Freidenker-Verbandes“ ihm zu Ehren zusammengesucht und in dem Neuköllner Café ausgestellt haben. Und vielleicht hätte er nach dem Rundgang einem der Organisatoren, dem 34jährigen Christian John, zustimmend auf die Schulter geklopft für seinen Satz, man dürfe ihm, dem Mann mit dem Rauschebart, heute „nur mit ironischer Distanz, mit Abstand und einem Lächeln begegnen“. Denn vieles, was vor noch nicht allzulanger Zeit von vielen Gläubigen aufgesogen wurde und im Café und im Vorraum zu sehen ist, hätte ihm ein Schmunzeln entlockt. Wäre denn der 175jährige, der stets aus tiefstem Herzen den Spießer verachtete, einverstanden gewesen mit der bierernsten Büste, die der DDR-Künstler Johann Heidrich 1954 von ihm fertigte? Oder was hätte er von den ewig gleichen Grafiken des ehemaligen DDR- Hochschulrektors und „sozialistischen Realisten“ Walter Womacka gehalten?

Doch auch dort, wo die Menschen im Kapitalismus seinen Rat suchten, wäre er nicht aus dem Staunen herausgekommen. Etwa über die zwei Seiten aus dem blauen Band des „Kapitals“, auf denen ein westdeutscher Student fast jeden seiner Sätze farbig unterstrichen hat. „Schöne, sehr schöne Buntstifte“, hätte Marx gedacht und dann sicherlich darüber sinniert, ob der junge Mensch im Farbensammelsurium nicht die Übersicht verloren haben muß. Erschrocken hätte er vor den ausgestellten Medaillen, Postern und sonstigem Kitsch feststellen müssen, was dieses Jahrhundert aus ihm gemacht hat: einen Religionsstifter.

Aber auch er selbst, der Intellektuelle und Kritiker gesellschaftlicher Mißstände, müßte sich während des Rundgangs nach eigenen Fehlern fragen. Etwa vor jenem Poster, auf dem seine Frau Jenny von ihrer tristen Lage berichtet: „Uns Frauen fällt in allen diesen Kämpfen der schwerere Teil, weil kleinlichere Teil, zu. Der Mann kräftigt sich im Kampf mit der Außenwelt, wir sitzen daheim und stopfen Strümpfe.“ Und was hätte er, der die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abschaffen wollte, über einen Brief seines Freundes Friedrich Engels gesagt, in dem es über schwule Philosophen heißt: „Es ist nur ein Glück, daß wir persönlich zu alt sind, als daß wir noch einen Sieg dieser Partei fürchten müßten, den Siegern körperlichen Tribut zahlen zu müssen.“

Ob ein Mann von 175 Jahren noch zur Selbstkritik fähig gewesen wäre, ist mehr als fraglich. Eines aber hätte Marx sicherlich getan, würde er heute seinen Geburtstag im Café Rix feiern: den Machern der Ausstellung für ihren lockeren Umgang mit seiner Person gedankt und auch dafür, daß sie ihn, wie so viele ehemalige Gläubige, nicht vergessen haben. Dann hätte der stets in Geldnöten schwebende Mann einen weiteren Milchkaffee – diesmal auf Kosten der Freidenker – bestellt, seinen Füller gezückt und eine beißende Polemik geschrieben gegen all jene, die ihn zur Ikone machten.

Bis 6. Juni im Café Rix in der Karl- Marx-Straße 141