„Borussia, Du bist Leidenschaft“

Wenn, so wie heute mit Juventus Turin, die große Fußballwelt in Dortmund Einzug hält, blüht die „Stadt mit dem gewissen Nichts“ auf  ■ Aus Dortmund Thomas Roser

Dortmund (taz) – Die Kamerateams wissen, wo sie ihre Bilder bekommen. Westfalenschänke, Lindemannstraße, lautet die Adresse, gerade mal fünf Minuten Fußmarsch vom Westfalenstadion entfernt. Rustikales Eichenholz, solide Küche: Kaum zu glauben, daß ausgerechnet hier bodenständige Westfalen nach den Spielen der Borussia brasilianische Karnevalsstimmung entfachen.

Aber doch, genau hier geht die Luzi ab. Nur der Verzehr mächtiger Frikadellen kann den Strom des goldgelben Gerstensaftes unterbrechen, der sich in steter Gleichmäßigkeit in durstige Schlünde ergießt. Wenn die Scheinwerfer der TV-Stationen dann ihr gleißendes Licht in die bierseligen Gesichter der gelb-schwarz gewandeten Zecherschar werfen, sind die Reaktionen routiniert. Hinter der Theke wird der Lautstärkeregler nach oben gezogen. Das langgezogene „Boorussiaah“ schallt mit Urgewalt aus Boxen und rauhen Kehlen.

Die Fans feiern ihre Idole und sich selbst. Die Inbrunst der Sänger verleiht den banalen Texten der schaurig-kitschigen Borussia- Scheibe fast schon sakrale Weihen: „Hier fragt man nicht nach Arm oder Reich, wir Fans auf der Tribüne sind alle gleich. Borussia, Du bist Leidenschaft, die verbindet und Freunde schafft. Borussia, Du verkörperst die Region, für manche von uns gar Religion.“

Dreißig Sekunden glückselige Gesichter, in Trance geschwungene Schals – die Einstellung ist im Kasten, die Reporter sind's zufrieden, die Fans sowieso. Der BVB Borussia Dortmund 09 – ein Verein, so recht nach dem Geschmack der Medienmacher. Tradition, Erfolg und Publikumszuspruch – damit lassen sich nicht nur die Kassen des Vereins füllen, sondern das ist auch der Stoff, aus dem Sportjournalisten ihre Geschichten schnitzen: Fans, so begeisterungsfähig und treu wie die des Erzrivalen Schalke 04; eine Mannschaft, deren mit Technik und Tempo gepaarter Kraftfußball den Vergleich mit dem des FC Liverpool in besseren Tagen nicht zu scheuen braucht; das schönste, meist bis zum letzten Platz gefüllte Stadion der Republik; eine Stimmung wie bei Eishockeyspielen der Düsseldorfer EG; ein Management, das in seiner – an Langeweile grenzenden – Professionalität den Mannen um Bayern-Manager Uli Hoeneß in nichts nachsteht – und nicht zuletzt eine Stadt, deren Fußballbesessenheit in den letzten Jahren nahezu neapolitanische Ausmaße erreicht: Dortmund.

Der „Stadt mit dem gewissen Nichts“ im Osten des Ruhrgebiets fällt es meistens schwer, flüchtigen Gästen das ureigene Profil der Südwestfalen-Metropole zu vermitteln. Zwar verweist das Presse- und Informationsamt unermüdlich auf 50 Prozent Grünfläche, den größten Kanalhafen Europas, einen erfolgreichen Strukturwandel zum Technologie- und Dienstleistungszentrum und die größte Bierproduktion auf dem Kontinent. Doch außerhalb der Stadtgrenzen sind solche Wahrheiten entweder nicht bekannt oder sie stoßen auf ebenso mäßiges Interesse wie die Stadtrundfahrten der emsigen Dortmund-Werber. Potentielle Investoren sind denn auch eher mit den begehrten Karten für die Heimauftritte der Borussia zu beeindrucken: Dort liegt die Stadionauslastung in dieser Saison bei durchschnittlich 95 Prozent.

Gut verkaufen sich in der Bäckerei Arens die „Borussia-Taler“: das mit gelb-schwarz gefärbtem Zuckerguß überzogene Gebäck geht weg wie warme Semmeln. Am Borsigplatz spannen sich über voluminöse Bierbäuche neongelbe Trikots. Hier, in der Nordstadt, die wie überall in den Städten des Ruhrgebiets einst die Arbeiter und jetzt die Arbeitslosen beherbergt, schlägt das Herz des BVB – auch wenn sich ein großer Teil der Stadionbesucher aus den schicken Vororten im Süden, dem Sauer- und dem Münsterland rekrutiert. Zwischen Parkplatzbrachen, Trinkhallen und Pommesbuden verbreiten die nicht immer erfolgreichen, aber meist spektakulären Auftritte der Mannen um Kapitän Zorc Hoffnung und Optimismus, die der von Tristesse geprägte Alltag kaum mehr zu bieten weiß.

Vor allem bei Begegnungen des Europapokals, wenn mit fremden Teams auch ein bißchen die Welt in das vom Tourismus kaum berührte Dortmund schwappt, ist rund um den Borsigplatz Feiertag. Eifrig und oft bar jeglicher Fremdsprachenkenntnisse diskutieren die BVB-Jünger dann mit den angereisten Fans die Erolgsaussichten ihrer Teams, tauschen Schals, Schlachtgesänge und Adressen fürs Rückspiel. Bei Auslandsreisen der Borussia-Fans sorgt allenfalls deren Zahl für Aufsehen: Probleme mit randalierenden Hooligans gab es bei den bisherigen Europareisen der BVB-Gemeinde nie.

Weinend brachen tätowierte Hünen vor der Großleinwand auf dem Friedensplatz zusammen, als ihr BVB im vergangenen Jahr zwei Minuten vor dem Ende die Meisterschaft an den VfB Stuttgart verlor. Ähnliche Szenen menschlicher Tragödien könnten sich auch am 19. Mai abspielen, wenn Borussia nach den beiden UEFA-Cup- Endspielen gegen den turmhohen Favoriten Juventus wieder einmal mit leeren Händen dastehen sollte. Vielleicht – so die leise Hoffnung, die die Stadt beseelt – gelingt aber doch ein Wunder, können die Gehwege am Borsigplatz wie beim Pokalsieg 1989 wieder gelb-schwarz gestrichen werden. Doch Sieg oder Niederlage – eines ist gewiß: gefeiert wird in Deutschlands eigentümlicher Fußballhauptstadt in jedem Fall. Denn nicht der BVB ist einmalig, sondern diese Stadt und seine fußballverrückten Ureinwohner.