In Altgold gehalten

■ István Szabó inszeniert „Boris Godunow“ in Leipzig

Von István Szabó würde ich mir jederzeit wieder einen Film ansehen, aber eine Oper? „Boris Godunow“ – mit dem gewaltig tönenden Memorial für ein leidend-manipulierbares Volk, von Szabó ins Bild gesetzt, läutete Leipzigs Oper am 1. Mai acht Festwochen anläßlich der vor 300 Jahren stattgehabten ersten öffentlichen Singspielaufführungen ein. Sieben Premieren, zwischendurch das Repertoire seit Beginn der Intendanten-Ära Zimmermann, sollen die Kulturmüdigkeit der guten Leipzscher vertreiben. Das allerorten Gängige fehlt dabei ebenso wie die Hausgeister Wagner und Lortzing. Udo Zimmermanns Blick umschweift das Größere: Frankreich (Reameau, Gretry), Mailand – Kooperationspartner für Stockhausens „Dienstag aus Licht“ – und eben Ungarn und Rußland mit dem „Boris“. Am düsteren Schluß steht „Die Nachtwache“, eine uraufgeführte Totenklage nach Nelly Sachs von Jörg Herchet.

Vielleicht um den Segen der Muttergottes für soviel teure Kunstausübung zu erflehen, glänzte in Szabós Aufführung das Altgold der Fahnen und Ikonen mit dem der kostbaren Bojaren- Gewänder um die Wette – es lebe der Zar. Kontrast muß sein: in neo- tümliches Graubraun gewandetes Volk schreit bekanntlich bis auf den heutigen Tag vergebens um zivilisierte Verhältnisse und eine normale Versorgungslage. Bei Modest Mussorgski soll vorerst Zar Boris Godunow dafür sorgen. Am Schluß wird es Dimitri sein – einerlei.

Das ungarische Team um Szabó hat in ungarischem Geschmack gearbeitet: k.u.k.-Verbindlichkeit mit einem Zug ins Große und einem anderen ins postmodern veredelt Hübsche. Zunächst, am größten, das Bühnenbild von Attila Kovács in Form eines Folianten. Alle Gesetzestafeln und drückenden Dogmen dieser Welt mühelos fassend, lastet es acht mal 14 Meter riesig und goldbeschlagen auf der Bühne. Wehe, wenn es geöffnet.

Drinnen verbergen sich die Gemächer der Zaren und Bojaren, drinnen hext der mythologisch uralte Mönch Pimen an seiner russischen Chronik und dem falschen Zaren Dimitri; drinnen stehen die Heiligen in ihren mannshohen Schreinen wie an den Rändern der ältesten Ikonen und sehen stoisch auf den Kreislauf des immergleichen Jammers der einen und der immerähnlichen Intrigen der anderen nieder.

Lediglich im Buchrücken verbirgt sich Konterbande. Ihn öffnen weder heilig Leidende noch Blutsauger, sondern die Wirtin entfaltet ihre segenspendenden Geschäftsräume. Die entlaufenen Mönche Waarlam und Missail hängen folkloristisch am Kneipentisch hinter ihrem Wässerchen, als ein anderer ehemaliger Mönch des Weges kommt. Es ist der zukünftige Throninhaber und falsche Dimitri, vorerst auf der Flucht nach Polen. Da die Operettenstrelitzen ihn mit ihren Pappspießen stellen, legt er einen von ihnen um und entschwindet. Pause.

Flucht nach vorn auf einen freigebliebenen Platz in der ersten Reihe. Es spielt überraschenderweise doch nicht nur ein Streichquartett. Der Stuttgarter Ungar János Kulka dirigiert das Gewandhaus in einer Mussorgskischen Originalfassung der etwa zehn Werk-Varianten. Alle überlieferten Szenen leicht gekürzt, lautet das Leipziger Angebot.

Ist nicht von Rimski-Korsakows eleganter oder von Schostakowitschs intelligenter, sondern von Mussorgskis eigener Fassung die Rede, so gewöhnlich in Ur-Begriffen wie „Urwald“ und „Urgestein“. Kulka brachte es fertig, die Urmaterie mit ihren 1869 absolut anachronistischen Klangmodernismen elegant und intelligent zu spielen. Der unbeugsame Wille zum satten Streicherwohlklang mit großer Bläserharmonie ist mitteleuropäischen Traditionsorchestern so leicht nicht auszutreiben.

Im Kreml hat Simon Estes als falscher Dimitri inzwischen einen noch kostbareren Pelz aus den Truhen des Boris angelegt. Er läßt seinen Baß in Höchstform verströmen, bis er der biegsamen Ulrike Helzel im kleidsamen Zarewitsch- Bubikopf, nach allen Chargierkünsten sterbend, das weitere überläßt.

Szabó beherrscht die Magie der Gesichter, nur taugt dieser Zauber auf der Bühne nicht. Die Halbtotale einer Bildsprache mit Körper und Gestik, deren Groß- und Kleinmeister den Beruf eines Opernregisseurs ausüben, fehlt in seinem Repertoire. Mit einem Spot aus der Dunkelheit geholt, in perspektivische verengende goldene Kämmerlein gesteckt, bleibt ein Sängergesicht doch immer nur ein tönender Punkt auf einer Riesenbühne – besonders nichtssagend für Rezensenten, die man unbegreiflicherweise in das akustische Loch des 1.700-ZuschauerInnen-Saales hinten unter den ersten Rang gestopft hat. Emotionale Tiefenwirkung, hinter der man doch her war, von Szabó verwendete Bildzitate, beispielsweise aus Eisensteins Film „Iwan der Schreckliche“, erfährt man small- talkend zum well-sponsored Premierenfeierbuffet.

Der endlich doch noch ergreifende Moment kommt mit Viktor Savaley. Des einsamen Gottesnarren von der gewöhnlichen Tagesschau unterfütterte Klage löste vor dem letzten Glockenschlag den Bann aus Kunstgewerbe und russischem Radebrechen. Irene Tüngler