■ Interview mit Peter Glotz zur Zukunft seiner Partei
: „Die sollen führen, nicht sich lieben“

taz: Herr Glotz, wenn man den Anlaß, die Affaire, beiseite läßt, woran ist Engholm gescheitert?

Peter Glotz: Ich glaube, man kann die Affaire nicht beiseite lassen. Mein Eindruck ist, daß sie ihn tief gezeichnet hat. Engholm ist durch die Affaire Barschel einerseits ungeheuer verletzlich und auch sehr mißtrauisch geworden, was man nur verstehen kann. Dies hat ihn wohl auch in eine Haltung getrieben, die ihm die „Machenschaften“ der Politik, deren alltägliche Brutalität unangenehm und widerlich gemacht hat. Er war ja glücklich, wenn er aus Bonn heraus- und in Kiel ankam. Das hat es ihm sehr schwer gemacht, den großen Wasserverdränger Kohl wirksam zu bekämpfen.

Das hat ihn die Partei deutlich spüren lassen?

Ich bin sicher, er hat gespürt, daß er vielen in der SPD zu wenig aggressiv und an manchen Punkten zu sanft war.

Für den Zustand der Partei als Erklärung heranzuziehen, daß der Spitzenkandidat nicht der richtige war, greift aber wohl eher zu kurz.

Ich glaube, das Defizit der SPD liegt weder im Programmatischen noch im Mangel an geeigneten Personen, sondern darin, daß die Programme aus den unterschiedlichen Sachbereichen nicht zu einem Projekt gebündelt worden sind und daß die Führungspersonen, von denen die SPD in der mittleren Generation mehr hat als alle anderen Parteien, nicht zu einem Team gewachsen sind. Was wir brauchen, ist eine Führungsmannschaft, die so agiert wie die Brandtsche Führungsmannschaft in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren. Die müssen sich nicht lieben, aber in den entscheidenden Situationen am gleichen Strang ziehen.

Programmatik schön und gut. Aber ist die SPD seit 89 nicht einfach zu unflexibel, liebgewonnene Vorstellungen den rapiden Veränderungen — nicht anzupassen — aber zu öffnen. Prominentes Beispiel: Asyl. Ein ähnlicher Verschleißprozeß droht jetzt in der Out-of-area-Frage.

Also, ich sehe überhaupt keine Notwendigkeit zu einer neuen Programmatik in der Grundfrage Krieg und Frieden. Aber wir müssen uns entscheiden, zu helfen und die Forderungen der Vereinten Nationen zu erfüllen, d.h. Blauhelmaktionen. Wir müssen dabei bleiben, daß wir eine Zivilmacht sind, keine Militärmacht werden wollen und uns an Kriegen nicht beteiligen. Was die SPD allerdings nicht machen darf, ist, Führungsfiguren ins Rennen zu schicken, die eigentlich der Meinung sind, die CDU habe mit ihrer Auffassung recht und die dann brav die Beschlußlage der SPD verteidigen. Damit werden sie mit Sicherheit in die Defensive geraten. Die SPD braucht eine Führung, die auf ihrer Programmatik aufbaut und zu dieser steht. Da muß es sicher auch Korrekturen geben. Wir sagen heute, anders als früher, wir brauchen Blauhelme, auch robuste Blauhelme, aber Krieg brauchen wir nicht. Mit dieser Position werden wir eine große Mehrheit mobilisieren können.

Geht es „nur“ darum, das Team zusammenzustellen, oder muß nicht auch die Partei insgesamt beweglicher werden? Kann sich die SPD weiter solche Zerreißproben leisten wie in der Asylfrage, bei denen letztlich alle inhaltliche Substanz auf der Strecke bleibt?

Also: Erst mal hat die Parteiführung in der Asylfrage über Jahre hinweg auf ganz bestimmten Botschaften beharrt, die vor 89 realistisch und nach 89 unrealistisch waren. Man darf dann nicht die Partei beschimpfen, die auf dem, was ihr jahrelang eingeredet worden ist, eine Zeitlang beharrte. Das Grundproblem im übrigen ist, daß die Fraktion in entscheidenden Fragen zu uneinig war. Klose hat das Einwanderungsgesetz nicht durchgesetzt, weil er genau wußte, daß bei den Einwanderungskriterien die unterschiedlichsten Positionen vertreten wurden. Das war in der Tat ein Defizit, insbesondere in den Führungspositionen, für das ich dann nicht die Basis verantwortlich machen würde.

Wie sähe denn das „Projekt“ aus, mit dem das künftige Team in die Offensive kommt?

Die Bundesrepublik als eine Zivil- und Wirtschaftsmacht, die sich nicht nach der amerikanischen oder französischen Normalität sehnt, die die Herausforderung der Japaner bei den modernen Technologien annimmt, ein Deutschland, das nicht aufgibt, soziale Schutzmacht zu sein und den europäischen Sozialstaat zu bewahren, ein Deutschland, das voll auf die Integration in Europa setzt, also nicht Brücke zwischen Ost und West spielt, das weiß, daß es ein Stück Westen ist. In dieser Richtung muß die existierende Programmatik der SPD zu einem erkennbaren Profil gebündelt werden.

Was heißt das für die SPD-Perspektive 94?

Kohl hat die ökonomische Pleite teils organisiert, teils zugelassen und will das jetzt mit nationalen und militärischen Methoden kompensieren. Dagegen muß die SPD ihr Projekt setzen. Ich sehe durchaus auch die populistischen Züge, die ein solches Projekt haben kann, man muß nur den Mut dazu haben.

Was sind Ihre Vorstellungen für das Procedere, in dem jetzt die Führungsmannschaft zusammengestellt werden soll?

Ich finde, die Partei muß sich eine gewisse Zeit lassen, und es darf auch nicht nur in irgendwelchen oberen Etagen ausgekungelt werden, nur damit uns dann im Leitartikel des Spiegel bestätigt wird, wie führungsfähig wir doch sind. Wie lange das dauern wird, läßt sich nicht dogmatisch festlegen. Rau ist ein anerkannter, von niemandem bestrittener amtierender Vorsitzender und kann diesen Prozeß moderieren. Wir haben im November einen Parteitag, mir würde es genügen, wenn dort die Führung gewählt wird. Aber ich bin dagegen, das jetzt im Schweinsgalopp zu machen.

Sie meinen, die Partei braucht jetzt einen Kanzlerkandidaten und einen neuen Parteichef? Es gibt ja auch Spekulationen, die darauf hinauslaufen, daß Rau den Parteivorsitz erst mal bis 94 übernimmt.

Ich bin gegen solche Begrenzungen, und ich bin auch gegen Übergangsvorsitzende. Wenn Johannes Rau sich entscheidet, diese Aufgabe zu übernehmen, finde ich das gut, dann muß er sich aber für einen längeren Zeitraum entscheiden. Ein Vorsitzender auf Abruf wäre keine gute Lösung.

Sollen die Ämter gesplittet werden?

Ich bin sehr dafür, die Ämter wieder zu trennen. Es hat sich keine derart überragende Führungsfigur herausgebildet, daß man nun wieder das ganze Schicksal der SPD in zwei Hände legen sollte. Ich glaube, es muß jetzt in der Tat ein Team geben.

Das Personalkarussell dreht sich, drehn Sie ein bißchen mit?

Nein. Ich würde auch jedem Gremium abraten, jetzt irgendwelche Personen auszurufen. Wichtig ist, daß am Ende welche drangelassen werden, die es können. Interview: Matthias Geis