Tschetschenien: Mullahs und Mafiosi

■ Opposition fordert den Rücktritt von Präsident Dudajew / Wiederbelebung des Islam gehört zu seiner Strategie

Moskau (taz) – Man kennt die Bilder schon. Aus Tadschikistan, Georgien und und und... Die Anhänger der gegenwärtigen Macht versammeln sich auf dem einen Platz, schlagen Zelte auf, putzen ihre Kalschnikows und skandieren Slogans. Wenige hundert Meter weiter, auf dem nächsten Platz trifft sich die Opposition, auch sie richtet sich auf längeres Bleiben ein. Diesmal ist Grosnij an der Reihe, die Hauptstadt des nordkaukasischen Fleckens Tschetschenien. Auf dem Freiheitsplatz kampieren die Anhänger des Präsidenten Dschokar Dudajew. Meist Bauern und ärmliche Landbevölkerung, die zur Unterstützung des Republikschefs in die Stadt gekarrt wurden. Den Theaterplatz füllen Intellektuelle und Geschäftsleute.

Seit zwei Wochen stehen sich die Kontrahenten gegenüber. Zunächst forderte die Opposition den Rücktritt des Präsidenten und der Regierung, die Auflösung seiner Privatarmeen, ein Referendum und Neuwahlen. Der selbstherrliche Kaukasusfürst Dudajew ließ sich nicht darauf ein. Er löste einfach das Parlament auf. Beide Seiten drohten einander mit Waffengewalt. Dann bekundeten beide ihre tiefe Friedfertigkeit. Was ist eigentlich los in Tschetschenien? Keiner der sonst so gut informierten Kreise kann eine Auskunft geben. Nur eins wiederholt sich ständig: der gegenseitige Vorwurf, die anderen seien „übelste Mafiosi“.

1991 ließ sich der Luftwaffengeneral a. D. Dudajew zum Oberhaupt der damaligen Republik Tschetscheno-Inguschetien wählen. Um die Rechtmäßigkeit des Wahlganges kursierten schon damals eine Reihe glaubhafter Gerüchte. Nicht alles sei mit rechten Dingen zugegangen. Kurz darauf sagten sich die Inguschen von der Republik los. Dudajew hingegen spielte die Karte der vollen Souveränität seines Ländchens. Als einzige Republik in der Russischen Föderation unterschrieb sie nicht den vorläufigen Föderationsvertrag. Damals erntete er noch breite Zustimmung. Bis heute wetteifern Regierung und Opposition um den Titel, wer es denn nun wirklich ernst meine mit der Souveränität.

Tschetschenien wurde im 19. Jahrhundert vom zaristischen Rußland auf blutigste Weise unterworfen. Jahrzehntelang kämpften Zar und Kosacken gegen die widerspenstigen Bergvölker des Kaukasus. Ressentiments gegenüber Rußland lebten fort. Präsident Dudajew versuchte durch eine Politik der Paranoia, sein persönliches Regime zu festigen. Stetige Berichte über russische Anschläge, Infiltrierung und Bedrohung von außen sollten den Boden bereiten. Genau wie es sein Freund, der verjagte Präsident Georgiens, Swiad Gamsachurdia betrieben hatte. Monatelang bot er jenem Psychopathen in Grosnij Unterschlupf.

Die Bedrohung von außen flankierte Dudajew mit einem bewußten Rückgriff auf hergebrachte Traditionen. Er führte das alte Rechtssystem wieder ein, das auf islamischem Gesetz beruht, um Clanstreitigkeiten beizulegen. Allerdings sollen die Gesetze des Korans komplizierter sein, als sie die Praxis in Grosnij handhabt. Blutrache ist keine Seltenheit. Fast jeder fuchtelt dort mit einem Schießeisen rum.

Zur Strategie gehörte auch die Wiederbelebung des Islam. Die knapp 700.000 Tschetschenen sind sunnitische Moslems. Allerdings galt dieser Flecken als ziemlich verweltlicht. Die Tschetschenen fürchten keinen Alkohol und die Frauen tragen keine Scharija. „Religiöse Faktoren waren sehr wichtig für den Aufstieg Dudajews an die Macht“, meint der Vorsitzende der Oppositionsbewegung „Daimochhk“ (Vaterland) Umchhajew. Eine größere Rolle spielte aber die vorübergehende Begeisterung für die alten Traditionen. Dudajew nutze die Religion nur aus, kenne den Koran nicht. So machte er seinen Landsleuten weis, Moslems sollten am Tag dreimal beten. Anstatt der vorgeschriebenen fünf Gebete. Ertappt meinte er: „Ah ja, je mehr desto besser“. Im Laufe der letzten zwei Jahre kam die Wirtschaft völlig zum Erliegen – obwohl Dudajew keine der Reformschritte Moskaus mitvollzogen hat. Statt dessen blüht der Schwarzhandel, die Versorgung der Republik läuft über illegale Kanäle, die erkleckliche Gewinne einbringen. Bettelnde Kinder gehören zum Straßenbild. Auf Schmuggelwegen wird dagegen Öl „exportiert“.

Den Vermittlungsvorschlag Dudajews, den „Mechhkel“, eine Art Ältestenrat, den Konflikt schlichten zu lassen, lehnte die Opposition ab. Wäre der Rat ein echter „Mechhkel“ müßte man seinem Wort folgen, so ein Oppositioneller. Doch dieser sei eine Marionette des Präsidenten. Inzwischen hat die Opposition einen elf Punkte umfassenden Forderungskatalog unterbreitet. Wichtigstes Anliegen, das Parlament soll weiterarbeiten und der Ausnahmezustand aufgehoben werden. Wenn alles glatt geht, dürften die Tschetschenen am 5. Juni über ihre neue Verfassung abstimmen. Klaus-Helge Donath