Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik haben Richter eine Landtagswahl für ungültig erklärt. Und so rauften sich gleich im Anschluß an das gestrige Urteil des Verfassungsgerichts in Hamburg die Juristen die Haare. Aus Hamburg Norbert Müller

Korrektur klandestiner Kandidatenkür

Als die Mitglieder des Hamburgischen Verfassungsgerichts gestern pünktlich um elf Uhr den Plenarsaal im Gänsemarsch betraten, traute sich kaum jemand richtig durchzuatmen. Der düstere Gesichtsausdruck des Vorsitzenden Richters Helmut Plambeck war bedeutungsschwanger. Die drei oder vier Minuten, die Plambeck regungslos den Fotografen und Kameraleuten für ihre Arbeit einräumte, kamen einer Gedenkminute gleich. Und dann das Urteil: Im Namen des Volkes hat das Gericht entschieden, die Wahlen zur Hamburgischen Bürgerschaft und den fünf Bezirksversammlungen Altona, Eimsbüttel, Hamburg- Nord, Hamburg-Mitte und Wandsbek vom 2. Juni 1991 für ungültig zu erklären. Der Hamburger Senat muß unverzüglich einen Termin für Neuwahlen festlegen.

Die Spannung im Saal entlud sich. Schulterklopfen, Umarmungen, Raunen bis hin zu Bravo-Rufen — als hätte der HSV haushoch gegen die Bayern gewonnen. Journalisten sprangen auf, drängten sich durch die Tür. Wo ist das nächste Telefon? Die Sensation war perfekt. Zum ersten Mal in der jüngeren deutschen Rechtsgeschichte hat ein Verfassungsgericht eine Parlamentswahl wegen „schwerwiegender Demokratieverstöße“ annulliert.

Der CDU-Kritiker Markus Ernst Wegner, der vor einer Woche aus der CDU ausgetreten war, hatte zusammen mit vier weiteren „Rebellen“ die vergangene Bürgerschaftswahl sowie die Wahlen zu den fünf Bezirksversammlungen angefochten. Kernpunkt dieser Anfechtung war das Verfahren, mit dem die Hamburger CDU ihre Kandidaten für die Parlamente aufgestellt hat. Gegenvorschläge von der Parteibasis waren demnach praktisch nicht möglich. Die Hamburger Union hat deshalb vor einigen Wochen — quasi in vorauseilendem Gehorsam — ihre Satzung bereits leicht geändert. Wegen seiner Kritik war Wegner, der 1977 in die CDU eintrat, in den vergangenen Jahren mehrfach aus dem Landesverband ausgeschlossen worden. Ebensooft erhielt er jedoch vom Bundesparteigericht der CDU recht. Es bescheinigte Wegner, daß die Kandidatenaufstellung der CDU „nicht mit dem innerparteilichen Demokratieverständnis vereinbar“ sei und sogar gegen den Art. 21 des Grundgesetzes verstoße; der schreibt vor, die innerparteiliche Ordnung habe demokratischen Grundsätzen zu entsprechen.

Zwar legte das Verfassungsgericht Wert auf die Feststellung, daß die CDU „eine ohne Einschränkung demokratische Volkspartei“ sei. Dennoch waren die Richter in ihrer Urteilsbegründung ausgesprochen deutlich: das Nominierungsverfahren der Kandidaten für die Bürgerschaft und die Bezirksversammlungen habe nicht auf Wahlen beruht und verstoße gegen sämtliche gesetzlichen Vorschriften. Wenn unterstellt würde, daß es den WählerInnen bei einer Listenwahl wie in Hamburg relativ gleichgültig sein könnte, wer letztlich in die Parlamente gewählt wird, so müßten sie dennoch davon ausgehen können, daß die Kandidaten rechtlich einwandfrei nominiert worden seien.

Für die RichterInnen, die das Urteil mit 6:2 Stimmen fällten, waren die Verstöße der CDU derart gravierend, „daß sie nicht sanktionslos bleiben dürfen“. Es genüge, wenn diese Fehler von einer Partei gemacht würden, „denn mit hoher Wahrscheinlichkeit würden die Bürgerschaft und die Bezirksversammlungen teilweise anders zusammengesetzt sein“. Daraus leitet das Gericht die eigentliche Begründung ab. Die Parlamente seien die „demokratische Keimzelle“. Ihre Zusammensetzung habe Auswirkungen auf die Zusammensetzung von Ausschüssen und anderen wichtigen Gremien. Und darin liege das Legitimationsproblem der CDU-Abgeordneten.

Einen Rüffel erhielten auch das Landeswahlamt und die Wahlleitung. Ihnen sei schon seit langem bekannt gewesen, daß die Chancen der Minderheiten innerhalb der CDU „gleich null“ waren, jedoch wurden daraus keine Konsequenzen gezogen. Die CDU hätte zu den Wahlen nicht zugelassen werden dürfen. Auch das Argument der damaligen Landeswahlleiterin Barbara Bludau, die Zeit für eine ausreichende Prüfung der Wahlvorschläge sei nicht gegeben, ließ das Gericht nicht gelten, gerade weil die Probleme bei der CDU bekannt waren. Gleichwohl sollte die Wahlprüfung in Hamburg „unter Umständen“ gesetzlich geregelt werden.

Das Gericht, so der Vorsitzende Plambeck, habe alle Möglichkeiten „unterhalb der Schwelle zu Neuwahlen“ bedacht, sei jedoch zu dem Ergebnis gekommen, daß Ermahnungen und Fristsetzungen für zukünftige Wahlen nicht genügten. Auch eine Satzungsänderung der CDU reiche nicht aus. „Die Entscheidung ist im wahrsten Sinne des Wortes bitter, aber sie war bitter nötig“, schloß Plambeck die Urteilsbegründung.

Bitter dürfte nun auch die Zeit der Verfassungsexperten von Bürgerschaft und Senat werden. In der Hamburgischen Verfassung ist der nun eingetretene Fall nämlich nicht vorgesehen. Es gibt in den einschlägigen Gesetzen nur zwei Varianten, um Neuwahlen anzusetzen oder eine Wahl zu wiederholen. Eine Neuwahl setzt voraus, daß sich die Bürgerschaft per Beschluß auflöst und ein komplett neuer Wahlablauf einsetzt. Eine Wahlwiederholung, wie vom Gericht angeordnet, ist dann vorgesehen, wenn etwa bei der Auszählung Stimmzettel verlorengegangen sind. Schon gestern rauften sich die Juristen die Haare, denn eine Wiederholungswahl müßte mit denselben Wahlvorschlägen, auch denen der CDU, durchgeführt werden. Diese jedoch hat das Gericht für rechtswidrig zustande gekommen erklärt. Und vor allem haben die vom Gericht erkannten „Legitimationsprobleme“ bei den CDU-Abgeordneten die Frage aufgeworfen, ob sie zur heutigen Bürgerschaftssitzung überhaupt noch erscheinen dürfen.

Unterschiedlich reagierten die Hamburger Parteien. Die Grünen (GAL) wittern bereits eine „Rot- Grüne Perspektive“, vorausgesetzt die SPD ist zu einem „Umlenken in zentralen Politikfeldern“ bereit. Die SPD ist nach dem Engholm- Debakel nicht in der Lage, sich zu äußern, will das schriftliche Urteil abwarten. CDU-Bürgerschaftsmitglied Ulrich Karpen sagte nach der Urteilsverkündung: „Sehr überrascht bin ich nicht. Wir haben Fehler gemacht.“ Karpen geht von Neuwahlen frühestens im Oktober aus, denn „die CDU muß jetzt zunächst erneut die Satzung ändern“. Die FDP, bis vor zwei Jahren Koalitionspartner der SPD, hält das „konsequente Urteil“ für eine „willkommene Chance, einen politischen Neuanfang für Hamburg zu gestalten“.