Das bärenstarke Küken

Alex Zülle ist bislang die dominierende Figur der Spanien-Rundfahrt 93 /Die Favoriten hoffen auf mangelnde Bergfestigkeit des Schweizers  ■ Von Matti Lieske

Berlin (taz) — Als Schwimmer oder Turner wäre Alex Zülle bereits ein Greis, als Fußballer in den besten Jahren. Aber der Schweizer ist Radprofi, und als solcher noch ein Küken, wenn auch ein bärenstarkes. Mit seinen 24 Jahren steht Zülle erst am Anfang seiner Karriere, ihren Höhepunkt erreichten die Großen des Metiers wie Delgado, Induráin, Bugno, zuletzt in der Regel etwa mit 28 Jahren. Doch der 1,90 Meter große Schweizer, der erst seit zwei Jahren Profi ist, gilt als eines der größten Talente des Radsports. 1991, in seinem ersten Profijahr, trumpfte er schon bei der „Vuelta a Cataluna“ auf, 1992 gewann er mehrere kürzere Rundfahrten und nahm Miguel Induráin am zweiten Tag der Tour de France frech das „Gelbe Trikot“ ab, nachdem er sich dem Spanier schon beim Prolog nur um zwei Sekunden geschlagen gegeben hatte. In diesem Jahr siegte er gar bei der renommierten Etappenfahrt Paris-Nizza.

Der Sportliche Direktor seines ONCE-Teams, Manolo Sáiz, wird jedoch nicht müde zu betonen, daß Zülle nach wie vor „ein Mann für die Zukunft“ sei. „Er ist nicht unser Kapitän“, betont er, „er ist jung und muß Stück für Stück vorangehen. Man muß vermeiden, ihm psychologische Lasten und Verantwortlichkeiten aufzubürden.“ So ganz nimmt ihm die Konkurrenz diese Tiefstapelei nicht ab. „Ich glaube nicht, was Sáiz sagt“, meint zum Beispiel Pedro Delgado, „dieser Fahrer kann jeden Augenblick explodieren.“ Zülle sei nicht nur ein blendender Radler, sondern habe zudem diese „Schweizer Mentalität“: Gehorsam über alles. „Wenn du ihm zehn sagst, sagt er zehn, wenn du bremsen sagst, bremst er, dann sagst du trinken, und er trinkt.“

Also bestätigte Alex Zülle, der, wenn er nicht gerade wie wild in die Pedale tritt, am liebsten ausgiebig schläft, zu Beginn der 3.576 Kilometer langen Spanien-Rundfahrt auch brav die Aussagen seines Chefs, wurde nicht müde zu betonen, daß Erik Breukink für diese „Vuelta a Espana“ der Spitzenfahrer von ONCE sei und er selbst viel zu jung, um eine solche dreiwöchige Rundfahrt zu gewinnen. Die überlegene Art, in der er die erste Etappe der „Vuelta 93“, ein zehn Kilometer langes Zeitfahren in La Coruña, für sich entschied, ließ die Experten jedoch staunen und gemahnte sie an den Bretonen Bernard Hinault, der bei seinem ersten Vuelta-Triumph durchaus jünger war als Zülle jetzt.

Bis zum Bergzeitfahren von Navacerrada, der 6. Etappe, werde der Schweizer die Führung wohl behalten, mutmaßten sie, staunten dann aber um so mehr, als Zülle auch diese Prüfung deutlich gewann. Bei widrigsten Bedingungen, inmitten von Regen, Kälte und sogar Schnee, nahm er Delgado zweieinhalb Minuten und seinem Kapitän Breukink gar dreieinhalb Minuten ab. Er fuhr weiterhin in Gelb, heute aber geht es in die Pyrenäen, hinauf nach Cerler, und in den Bergen, so hoffen die Mitfavoriten, werde dem vorwitzigen Eidgenossen dann schon die Puste ausgehen. „Alex ist in einer privilegierten Situation, doch es bleibt eine Unbekannte, wie er sich in den Bergen hält“, sagt der 33jährige Pedro Delgado, der endlich seine dritte Vuelta gewinnen will, aber nach der 9. Etappe mit fast dreieinhalb Minuten Rückstand nur auf dem fünften Platz des Gesamtklassements lag. Im letzten Jahr habe Zülle den Druck nicht ausgehalten und sei „auf der Königsetappe eingegangen.“

Während Delgado auf die Berge hofft, setzt Vorjahressieger Tony Rominger auf die insgesamt 80 Kilometer an flachem Zeitfahren, die am Samstag in Zaragoza und bei der letzten Etappe, am 16. Mai in Santiago de Compostela, noch auf dem Programm stehen. Rominger konnte bislang am besten mit seinem kräftigen Landsmann in Gelb mithalten. Er liebt den Regen und die Kälte, seine große Zeit ist das Frühjahr, bevor ihn der alljährliche Heuschnupfen weitgehend außer Gefecht setzt. Der Schweizer ist der Bürokrat unter den Radprofis, peinlich genau mißt er seine Pulsfrequenz, zeichnet den Rennverlauf auf, studiert die Daten, bespricht sie telefonisch mit seinem Arzt in Italien und zieht dann die Konsequenzen für die nächste Etappe. Sein Teamchef bei „Clas“, Juan Fernandez, ist zuversichtlich, daß die Speichen-Akribie Früchte tragen wird: „Rominger ist besser drauf als im letzten Jahr. Ich hoffe, daß er sein gutes Niveau in den Bergen halten kann.“

Laudelino Cubino vom starken Amaya-Team, das mit Melchor Mauri und Jesús Montoya noch zwei weitere Fahrer unter den ersten Zehn hat, ist da skeptischer. „In der Theorie ist Rominger der Gefährlichste, aber Theorien pflegen zu scheitern“, meint der Dritte im Klassement. „Ich fürchte vor allem Delgado.“

Bei den letzten Geplänkeln vor den Bergen zeigte Zülle auf der 8. Etappe zum erstenmal eine kleine Schwäche, als er bei einem Angriff seiner Mannschaft nicht folgen konnte, auf dem 9. Abschnitt durfte der ruppige Usbeke Djamolidin Abdushaparow endlich seinen ersten Sieg feiern. Doch nun ist die Zeit der Sprinter vorbei, in den Pyrenäen und den Bergen von Asturien nimmt die entscheidende Phase der Vuelta 93 ihren Lauf. „Der Fragen sind Tausende“, wies Amaya-Direktor Javier Mínguez alle Spekulationen von sich, „aber die Antworten wird das Rennen geben.“

Gesamtklassement: 1. Alex Zülle (Schweiz) 39:17:59 Stunden; 2. Tony Rominger (Schweiz) 1:05 Min. zurück; 3. Laudelino Cubino (Spanien) 2:02; 4. Marino Alonso (Spanien) 2:35; 5. Pedro Delgado (Spanien) 3:21; 6. Melchor Mauri (Spanien) 3:24; 7. Jesús Montoya (Spanien) 3:42; 8. Julian Gorospe (Spanien) 3:46; 9. Erik Breukink (Niederlande) 3:56; 10. Aitor Garmendia (Spanien) 3:59

9. Etappe von Albacete nach Valencia (224 km): 1. Djamolidin Abdushaparow (Usbekistan) 6:12:20 Stunden; 2. Giovanni Lombardi (Italien); 3. Jean-Paul van Poppel (Niederlande); 4. Juan Carlos Gonzalez-Salvador (Spanien); 5. Laurent Jalabert (Frankreich); 6. Angel Edo (Spanien); 7. Adriano Baffi (Italien); 8. Alfonso Gutierrez (Spanien); 9. Zbignew Spruch (Polen); 10. Johnny Dauwe (Belgien) alle gleiche Zeit