Pseudokonstitutionelle Tricksereien

■ betr.: "Jelzin siegt auf halber Linie", taz vom 27.4.93

betr.: „Jelzin siegt auf halber Linie“, taz vom 27.4.93

Ihr schreibt, Jelzin habe nur auf „halber Linie“ gesiegt. Damit seid Ihr offenbar den pseudokonstitutionellen Tricksereien des „Volksdeputiertenkongresses“ auf den Leim gegangen. Tatsächlich hat eine überwältigende Mehrheit der russischen „AktivbürgerInnen“ für Parlamentsneuwahlen gestimmt. Wäre bei einer Volksabstimmung in der Schweiz, Dänemark oder Bayern ein derart eindeutiges Ergebnis erzielt worden, hätte jeder von einem „Erdrutschsieg“ gesprochen.

Die Klausel, wonach bei der Abstimmung über Neuwahlen die Zustimmung von mindestens 50 Prozent der Stimmberechtigten (und nicht der abgegebenen Stimmen) erforderlich gewesen wäre, klingt zwar demokratisch, ist es aber nicht. Denn da sich nie 100 Prozent der BürgerInnen an einer Abstimmung beteiligen, wird durch diese Klausel bewirkt, daß zur Ablehnung einer Volksentscheidungsvorlage diese Hürde nicht erreicht werden muß – nur zu ihrer Annahme. Die Stimmenthaltungen werden also de facto dem Lager der NeinsagerInnen zugerechnet, obwohl eine Stimmenthaltung doch gerade zum Ausdruck bringt, daß man sich für keines der Lager entscheiden konnte oder wollte.

Dadurch haben Neinstimmen ein höheres Gewicht als Jastimmen. Das aber verstößt gegen einen der fundamentalen Grundsätze der Demokratie: die Gleichheit der Wahl.

Bei einer Volksabstimmung muß die Entscheidung von der Gesamtheit der Stimmberechtigten auf die tatsächlich abstimmende „Aktivbürgerschaft“ übergehen; Desinteressierte und Unschlüssige haben für den Fortgang der politischen Willensbildung ohne weiteres auszuscheiden. Wie bei Wahlen die volle Zahl der Mandate nach dem Verhältnis der abgegebenen Stimmen verteilt wird, sollte auch bei Abstimmungen über Sachfragen allein die Mehrheit der abgegebenen Stimmen entscheiden. In Ländern, in denen regelmäßig Volksentscheide stattfinden, wird dies auch so gemacht.

Wenn wegen des nicht erreichten Zustimmungsquorums die reformfeindlichen Kräfte nun versuchen sollten, Neuwahlen in Rußland auf den St. Nimmerleinstag zu verschieben, wäre dies eine klare Mißachtung des Mehrheitswillens des russischen Volkes!

Übrigens: Im Gesetzentwurf der deutschen SPD zur Aufnahme des Rechtes auf Volksbegehren und Volksentscheid ins Grundgesetz sind ebenfalls Zustimmungsquoren vorgesehen, die sich auf die Stimmberechtigten und nicht auf die abgegebenen Stimmen beziehen. Entweder hat sich die SPD noch nicht klar gemacht, wie undemokratisch derartige Zustimmungsquoren sind, oder sie will ihr Versprechen, mehr Bürgerbeteiligung zu ermöglichen, im Kleingedruckten wieder zurücknehmen! Yves Venedey, Konstanz