Fahren Sie Bus, Frau Vollmer?

■ betr.: "Hilfe, wir vergreisen" von Antje Vollmer, taz vom 30.4.93

betr.: „Hilfe, wir vergreisen“ von Antje Vollmer,

taz vom 30.4.93

[...] Die schönen Zeiten des Golfkrieges sind lange vorbei, wo junge PaderbornerInnen mich in den Arm nahmen, nicht nur, weil ich im Mahnwachenzelt nächtlich ein Bier ausgab, sondern weil ich mit jeder Demo latschte, Transparente mittrug und Antikriegsreden auf dem Rathausplatz hielt. Sie schienen meine Solidarität zu brauchen, die Jungen.

Inzwischen habe ich mich zu Antje Vollmers „Problemignoranten“ geschlagen und bin zur „Schönrednerin“ verkommen. Ich unterhalte meine AltersgenossInnen und all die jungen und mittelalten IdealistInnen, die uns als Arbeitsmarktlücke entdeckten und AltenpflegerInnen wurden, mit den Ergebnissen zum Beispiel der neueren Hirnforschung über Alter. Senilität als unentrinnbares Schicksal ist ein Mythos. Das Gehirn kann wachsen, die Intelligenz sich steigern, auch in der „vierten Lebensphase“ bis ins hohe Alter – wenn es betätigt wird. Und ich fülle meine ungewollte Altersarbeitslosigkeit, euphemistisch Ruhestand genannt, mit den Büchern über Alter, die Antje Vollmer abtut.

Bei dem amerikanischen Mediziner M. Bortz (62) kann man lesen, daß bei den Kalahari-Buschleuten Alter überhaupt kein Thema ist. Da sagt keiner in bebender Besorgtheit „sie, die Alten“, da gibt es nur ein „wir“. Ich hetze meine AltersgenossInnen auf, sie sollten Arbeit fordern, Jobs, man stelle sich das vor! Ich warne vor dem Ruhestand als staatlich verordneter Senilität. Ich zitiere bei jeder Gelegenheit eine Altersweisheit von George Bernard Shaw: „Ein immerwährender Urlaub ist eine ausgezeichnete Definition für die Hölle.“ Bevor ich ins Pflegeheim abgeschoben werde oder wegen Querulanz auf die Geschlossene komme, mache ich meinen selbstgewählten Job der aufsässigen Alten und versuche, meinen AltersgenossInnen ein bißchen Rebellion beizubringen. Es funktioniert, zugegeben, nicht besonders gut. Meistens rebelliere ich solo. Sie haben zwei Sachen einfach zu gut gelernt: sich mit sich selbst zu beschäftigen und Gemeinsinn für ungesund zu halten; zweitens, daß es ihnen zusteht, sich von Jüngeren unterhalten, bilden, pflegen, entmündigen zu lassen.

Ich möchte auch gerne, daß die Rotzbengel für mich aufstehen im Bus, weil ich so schlecht stehen kann. Ich bin eins von diesen Fossilien ohne Auto. Sie etwa auch, Frau Vollmer? Dann treffen wir uns vielleicht einmal im Bus, aber mit Schirm, damit wir diesen fiesen kleinen Besetzern die Macht der Alten demonstrieren können. Pardon, Sie gehören ja noch nicht zu uns. Eigentlich möchte ich lieber etwas anderes mit Ihnen tun, als Kids verhauen. Zum Beispiel reale Utopien entwerfen über eine Gesellschaft, in der es keine SeniorInnen mehr gibt, sondern nur noch BürgerInnen. Sibilla Pelke, 67, Paderborn

Da empfindet es Antje Vollmer also als alarmierend, daß die Bevölkerung nun nicht mehr so ansteigt, wie das mal der Fall gewesen ist. Ich bin der Auffassung, daß es – angesichts der globalen Bevölkerungsexplosion – gar nicht so schlecht ist, wenn sich die Menschen in den Industriestaaten nicht mehr so vermehren. Auf das naheliegendste, was sich gegen diese „düstere Reinen“ machen läßt, kommt Antje Vollmer nicht: Würden wir unsere Türen nur ein bißchen mehr Flüchtlingen öffnen und sie rechtzeitig integrieren, wir bräuchten mit Sicherheit keine Angst mehr zu haben, daß die Alterspyramide umkippt. Bernhard Clasen, Möchengladbach