Mit Walfleisch die Tradition bewahren

Die Walfänger des japanischen Dorfes Ayukawa kämpfen für die Wiederaufnahme des kommerziellen Fanges / „Warum verbieten die Christen es nicht, Kühe und Schweine zu essen?“  ■ Aus Ayukawa Georg Blume

„Mama, Mama! Das ist der Mann, den ich nicht mag“, schreit das kleine Mädchen im Schürzenrock und richtet den Zeigefinger auf meine Nase. Empörte Passanten schenken dem Ausländer böse Blicke. Besorgt beugt sich die Mutter zu ihrem Kind. Wehe dem, der in Ayukawa kleinen Kindern sagt, daß sie kein Walfleisch essen sollen!?

Dem Mädchen im Schürzenrock, das schnell wieder in der Menschenmenge untergetaucht ist, klebten noch die letzten Reste Walfleisch an der Lippe. In der Hand hielt sie einen Plastikteller mit Sojasoße und Ingwerraspeln. Denn was sonst nur in Tokioter Luxusrestaurants zu Höchstpreisen verjubelt wird, gibt es an diesem Tag in Ayukawa gratis an Jahrmarktständen. Walfleisch für jedermann – ob roh, gekocht oder in der Suppe. Kein Wunder, daß das kleine Walfängerdorf Ayukawa an der Nordostküste Japans mit BesucherInnen aus allen Teilen des Landes überlaufen ist. Einmal im Jahr, zum traditionellen Walfangfest am 29. April, lädt der Bürgermeister von Ayukawa zum kostenlosen Walschmaus ein. „Mit dieser Sitte“, so ein Dorfbewohner, „bewahren wir unsere Eßtradition.“

In Japan gilt das kleine Ayukawa längst als Hort der Unbeugsamen. Gegen die ganze Welt müssen die KüstenbewohnerInnen kämpfen, um den Walfang zu verteidigen. Dafür haben sie längst die Herzen der Japaner erobert, denen der Walfleischverzehr immer noch eher als Delikatesse denn als Verbrechen erscheinen will.

In diesem Jahr müssen die kulinarischen Vergnügungen auf dem Jahrmarkt von Ayukawa freilich hinter den politischen Zielen zurückstehen. Ein großes Zelt hat der Bürgermeister im Hafen errichten lassen, damit „die Stimme unseres Dorfes in der ganzen Welt gehört wird“. So preist der Lokalreporter die gemeinsame Veranstaltung der Walfänger von Ayukawa mit ihren Kollegen aus Norwegen, die den weiten Weg aus Europa gekommen sind, um im Kampf um das Walfleisch politische Verbündete zu finden. Begeistert werden die norwegischen Gäste aufgenommen: „Internationale Solidarität für die Wiederaufnahme des Walfangs“, lautet am nächsten Tag die Schlagzeile der Kohoku Shimpo, der Regionalzeitung mit einer Auflage von immerhin 500.000 Exemplaren.

Die Stimmung in Ayukawa ist kämpferisch. „Wir können hier die Wale vor unseren Augen vorbeiziehen sehen“, macht Bürgermeister Shighiko Azumi seinem Publikum Appetit. „Niemand hat das Recht, uns zu fragen, warum wir Wale essen.“ Damit meint der Bürgermeister vor allem ungeliebte Kritiker im Ausland, die er für das internationale Walfangverbot verantwortlich hält. „Die anderen Länder“, empört sich Azumi, „haben uns nie ernst genommen.“

Damit sich das ändert, tragen die Walfänger von Ayukawa rote Uniformjacken. Als Kompromiß an die Tierfreunde ist auf den Jacken eine Walflosse mit den vier Buchstaben „LOVE“ aufgedruckt. Darunter aber steht: „IWC KIOTO TASK FORCE“, eine Drohung, die freilich nur Eingeweihte verstehen. In der alten japanischen Hauptstadt Kioto tagt nämlich Mitte Mai die Hauptversammlung der Internationalen Walfang-Kommission (IWC). Dort wollen die Walfänger aus Ayukawa nun vorstellig werden, um ihre Interessen durchzusetzen.

„Was ist die IWC?“ fragt Toshihiko Abe, der letzte Walfangunternehmer in Ayukawa. „Die IWC wird von Öko-Gruppen dominiert. Sie erledigt nur Schreibarbeit und lädt die Debatte mit Emotionen.“ Statt dessen möchte Unternehmer Abe die Schreibtischarbeit für den Walfangverband ruhen lassen und wieder zur Harpune greifen.

Noch ist sein Geschäft nicht völlig ausgelaufen. Immerhin hundert Bairdwale und achtzig Grindwale dürfen die Japaner pro Jahr in ihren Küstengewässern jagen. Die Hälfte davon fährt Abe in Ayukawa ein und läßt anschließend das Walfleisch als Souvenir für Touristen verpacken. „Wir haben das Gerede der Bürokraten vom Walsterben satt“, skandiert der Harpunenveteran. „Vor uns liegt der Ozean mit 25.000 Zwergwalen. Die kann uns niemand nehmen!“

Tatsächlich geht es beim gegenwärtigen Streit um das Walfangverbot um eine der letzten nicht unmittelbar vom Aussterben bedrohten Walarten: die Zwergwale. Lange Zeit verschont, weil ihre großen Verwandten mehr Geld in die Kassen brachten, sollen sie in Zukunft auf Tokioter Banketten in Sesamöl glänzen.

Die sieben bis acht Meter langen Meeressäuger bieten nur das Beste für den japanischen Gaumen. Schon bis zu 80.000 Mark bringt der Zwergwal allein dem Walfänger ein. Kein Wunder also, wenn derzeit in Japan nur noch von Zwergwalen die Rede ist. Sogar auf amtlichen Plakaten des Tokioter Fischereiministeriums, die in Ayukawa jede Hauswand schmücken, wird die Wiederaufnahme des Zwergwalfangs gefordert.

Von den erhofften Verdienstmöglichkeiten, wo sich in zwei bis drei Monaten auf hoher See selbst für einen einfachen Angestellten über hunderttausend Mark verdienen lassen, spricht natürlich niemand. „Wir sind ohne Aussichten arbeitslos“, klagt der 45jährige Walfänger Osamu Ehama in Ayukawa. Doch über die neueröffnete Lachszucht seines Chefs will er kein Wort verlieren. So schlimm kann es jedenfalls nicht sein mit der Arbeitslosigkeit: Genaue Zahlen will auch Bürgermeister Azumi nicht nennen. Statt dessen beschwert er sich: „Früher kamen die Urlauber nach Ayukawa, um Walfleisch zu essen. Das ist jetzt vorbei.“ Warum aber wird dann in jedem Dorfrestaurant Walfleisch angeboten?

Vor allem die Kinder sollen kräftig und sorgenfrei zugreifen können. Einmal pro Monat servieren alle Schulkantinen in Ayukawa Walfleisch. „Heute freuen sich alle Kinder aufs Essen“, meint Grundschuldirektor Yoshihiko Irokawa am Tag vor dem Walfest, an dem die Kinder eine Extraportion erhalten. Zu Tisch sind die Kleinen freilich weniger begeistert: „Ich mag lieber Hamburger“, sagt der achtjährige Miyuki. Seine kleine Nachbarin Hanako stochert mißmutig mit dem Stäbchen: „Wal ist weder Fisch noch Fleisch.“ Worauf die Lehrerin nicht zu widersprechen weiß.

Damit solche Unlust an den Geschmäckern der Eltern nicht noch weiter um sich greift, haben die Dorfherren in Ayukawa mit Regierungskrediten ein nagelneues Kindermuseum errichten lassen: Frei nach Disneyland wurde der 23 Millionen Mark teure Bau „Whaleland“ getauft. Darin lernen die Kinder viel über die Nutzung der Wale zur Herstellung von Maschinenöl und Margarine – über das mögliche Aussterben der Meeressäuger aber fällt kein Wort.

Im „Whaleland“ verstehen es die Japaner wie immer perfekt, überkommene Klischees mit modernem Video-Schnack zu vereinbaren. Begeistert proben die Kleinen einen Rudersimulator, mit dem sie wie ihre ältesten Vorfahren dem Wal nachjagen. Nur die Harpunen sind nicht auf den Bildschirm verbannt; sie lassen sich viel schöner in Natura bestaunen, wenn Papa erzählt, wie er den Wal tötete.

„Wir wollen die Kinder über die Beziehungen zwischen Walen und Menschen unterrichten“, erläutert Museumsdirektor Tadahiko Azumi, der Bruder des Bürgermeisters. Am Festtag ist auch der Eintritt ins Walmuseum frei. Die Familien strömen in Scharen herbei. Ganz im Sinne der Museumspädagogik erklärt ein Großvater seinem zehnjährigen Enkelsohn die Eigenschaften eines Blauwals: „Das, mein Kind, ist der teuerste von allen.“ Tatsächlich gilt Blauwalfleisch als besonders gut und teuer.

Für Museumsdirektor Azumi ist es deshalb sehr wichtig, den Wal als „Teil unserer Eßkultur“ zu verstehen. Es sei ein zusätzlicher Beweis für die Hochschätzung des Wales in Japan, wenn man für alle Teile des Tieres eine Verwendung finde, wohingegen die Europäer das Walfleisch ins Meer geworfen hätten. Damit verweist der Direktor auf eine große Tafel, aus der hervorgeht, was man aus Walen machen kann: Schuhfett und Tennisschläger, Parfüm und Lippenstift, Suppenwürfel und Gelatine, Bleistifte und Dynamit, Tablettenkapseln und Hormone. Nicht zu vergessen Schinken und Wurst.

Die ganzheitliche Nutzung der Wale beeindruckt auch die Buddhisten. „Buddha sagt, daß, wenn man gezwungen ist, ein Tier zu töten, man davon nichts verschwenden soll“, erklärt Seimi Kawamura, Tempelvorsteher in Ayukawa. Insofern sei der Walfang vorbildlich. Damit auch die Seelen der Tiere nicht verlorengehen, hat Kawamura in seinem Tempelgarten eine Säule zur Tröstung der Wale errichten lassen. „Bis ins 19. Jahrhundert durften die Buddhisten in Japan keine Tiere töten“, begründet der Priester sein Engagement. „Weil aber Fische und Wale nicht wie Tiere aussahen, wurden sie gegessen.“ Was gewesen wäre, wenn die Japaner schon damals gewußt hätten, daß der Wal kein Fisch ist, weiß auch der Tempelvorsteher nicht zu erklären.

Doch inzwischen gehören Rind und Schwein zum japanischen Menü. Könnte man deshalb nicht auf Walfleisch verzichten? „Warum verbieten die Christen ihren Gläubigen nicht, Kühe und Schweine zu essen?“ entrüstet sich Dorfpriester Kawamura. Darin sind sich in Ayukawa alle einig: Vom Westen darf sich Japan seine Gewohnheiten nicht diktieren lassen. „Die Europäer mögen denken, Japan sei eine große Wirtschaftsmacht und könne deshalb ohne Walfleisch auskommen“, sagt Walfangunternehmer Abe. „Aber darin täuschen sie sich. Wale gehören zu unserer Kultur. Darüber läßt sich nicht diskutieren.“

Den kulturellen Diskurs haben die Dorfbewohner von Ayukawa freilich nicht selbst erfunden. Seit Jahren beten Regierung und Medien den Japanern vor, daß es zu ihrer Einzigartigkeit gehöre, Walfleisch zu essen. „Wenn Wale weiterhin übertrieben geschützt werden, werden die Ozeane von ihnen bald überschwemmt sein“, sagte der japanische Fischereiminister Masami Tanabu vor wenigen Tagen. „Wer Tiere schützen will, sollte deshalb Tintenfisch und Lachs oder Schweine und Schafe schützen.“ Für einen, der kein Walfleisch ißt, waren bessere Erklärungen in Ayukawa nicht zu erwarten.