■ Interview mit Wolfgang Thierse, stellvertretender Parteivorsitzender der SPD, zu Grundsatz und Pragmatik
: „Wir haben keinen Clinton“

taz: Herr Thierse, mußte Björn Engholm wegen seiner Falschaussage zurücktreten, oder waren doch der sichtbare Vertrauensverlust in der Partei und ein Stück schleichender Demontage die eigentlichen Ursachen?

Wolfgang Thierse: Björn Engholm ist nicht nur an seinem Fehler gescheitert, den er eingestanden und aus dem er in respektabler Weise die Konsequenz gezogen hat. Er hat damit noch einmal die Maßstäbe eingehalten, mit denen er angetreten ist. Aber Björn Engholm ist sicher auch an dem Anspruch gescheitert, die inneren Risse in der Partei qua Amt und Autorität überbrücken zu sollen.

Wo klaffen die Risse?

Die konkretisieren sich an den Sachthemen: Asyl, innere Sicherheit, internationale Verantwortung und an der Frage, wie unter erschwerten ökonomischen Bedingungen soziale Sicherheit zu erreichen sein wird. In diesen Fragen sind die Meinungsfronten innerhalb der Partei heftig in Bewegung und zugleich auch wieder starr. Das betrifft nicht nur die SPD, aber in ihr werden die Konflikte ausgetragen.

Das heißt also, die Krise der SPD ist weniger ein Personalproblem, sondern das Personalproblem ist Ausdruck der inneren Zerrissenheit in den entscheidenden Fragen?

Ich denke ja, doch das betrifft nicht nur die SPD. In der Union wird das abgebügelt. Aber, die SPD ist eben keine populistische Partei, die pragmatisch Macht erkämpft und behauptet. Sie ist immer eine programmatische Partei gewesen, getragen von Grundüberzeugungen, gemeinsamen Emotionen und Gegnerschaften. Doch all dies läßt sich angesichts der epochalen Veränderungen 1989/90 nicht mehr ungebrochen in die neue Realität hinüberretten.

Ich glaube, man muß weg von der Personalisierung. Die Partei ist innerlich und inhaltlich zerrissen – als eine Folge der Schwierigkeiten bei der Verarbeitung der neuen Situation. Es gibt gegenwärtig keine Autorität, die das überbrücken könnte. Es ist sogar so, daß die inneren Widersprüche selbst jene Autorität verhindern, nach der allenthalben verlangt wird. Wenn diese Beobachtung richtig ist, dann brauchen wir gerade die Öffnung zum innerparteilichen Diskurs. Der Parteivorsitzende muß genau die Autorität haben, diesen Diskurs zu eröffnen und zugleich die Partei zusammenzuhalten.

Mit einem solchen kommunikativen Veränderungsprogramm ist Engholm gewählt worden. Gezeigt hat sich, daß es schwer, wenn nicht unmöglich ist, der Partei Kursänderungen abzuverlangen, die nicht als zermürbende Zerreißprobe ablaufen. Ist nicht das, was die SPD ausgezeichnet hat, also eine Partei zu sein, mit einem auch emotional verankerten Programm, nicht heute die Ursache der Krise?

Ja, dieser Umstand erzeugt zumindest eine gewisse Schwerfälligkeit, die dann problematisch wird, wenn die Zeiten so sind, daß sie hohe Beweglichkeit erfordern. Das wirkt dann retardierend, renitent, widerspenstig. Aber, man verteidigt Grundsätze und Ideale nicht dadurch, daß man sie als Fahne gegen den Wind der Realitäten hält. Man muß die Fähigkeit haben, die Grundsätze mit der Realität zu verbinden. Nicht, indem man diese einfach akzeptiert, sondern indem man die Realität auf ihre Veränderungsmöglichkeiten hin untersucht. Es geht darum, die Grundsätze in pragmatische, also realisierbare Politik zu übersetzen.

Wir brauchen in der SPD kein neues Godesberg, sondern den Versuch, das Berliner Programm von 89 so umzuformulieren, daß es den neuen Verhältnissen in Deutschland und Europa angemessen ist. Die Frage lautet dann: Was müssen wir an unserm Reformprogramm, entwickelt für Verhältnisse einer beträchtlichen ökonomischen, sozialen und mentalen Modernität, verändern, um einer Situation gerecht zu werden, die geprägt ist von ökonomischer, sozialer und mentaler Ungleichzeitigkeit, von sich verschärfenden, sozialen Verteilungskämpfen?

Das wird aber bislang im SPD- Diskurs eher zerredet. Wer soll das in naher Zukunft zu einem greifbaren Projekt bündeln?

Es gibt nicht den einen Supermann, die eine Superfrau, das läuft immer auf Überforderung hinaus. Deswegen bin ich für eine Konstellation, die Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur trennt. So sehr ich den Ruf nach der Autorität verstehe, die Antwort muß sein: ein Team, das in den Personen, nach Charakter, Sachkompetenz und Temperament unterschieden ist, von denen nur verlangt wird, daß sie loyal und diszipliniert zusammenarbeiten. Es gibt nicht die eine Person, die in Deutschland den Clinton-Effekt erzeugen könnte, aber vielleicht geht es zusammen.

Also Schröder, der machtbewußte Zyniker, und Scharping, der blasse Pragmatiker, gemeinsam machen erst den sozialdemokratischen Clinton-Effekt?

Das weiß ich nicht. Ich habe keine Lust, mich öffentlich zu Personen zu äußern. Die SPD muß sich Zeit nehmen, nicht nur auf persönliche Anwartschaften zu reagieren. Sie muß immerhin jetzt eine Mannschaft zusammenstellen, die auf Jahre hin diese Partei führen kann.

In welcher Wunschkonstellation 94 soll dieses Team ein zeitgemäßes Reformprogramm durchsetzen?

Wenn die Situation so ist, daß wir schlimmste Probleme lösen müssen, ist die Antwort immer große Koalition. Wenn man aber denkt, diese Probleme werden nur gelöst, wenn sie zugleich auch als eine Chance zur Reform begriffen werden, dann ist natürlich das rot-grüne Bündnis das angemessenere.

Wolfgang Thierse

Foto: Andreas Schoelzel

Also offenlassen bis zur Wahl? Schleppend-trister Wahlkampf, statt mit der Aussage für Rot- Grün oder Ampel der Regierung die Reformoption entgegenzustellen?

Ich stehe für ein Profil der SPD ein, das den gegenwärtigen Umbruchprozeß als Chance für Reformen begreift. Das ist für mich Koalitionsaussage genug.

Sie haben die Urwahl des Kanzlerkandidaten ins Spiel gebracht.

Ich glaube, wir müssen die Partei in diese wichtige Entscheidung mit einbeziehen. Die SPD ist durch die Entwicklung der letzten Monate doch schwer erschüttert. Da gibt es Verärgerung, Wut und Resignation. Wann, wenn nicht jetzt, gibt es die Chance, wichtige Entscheidungen der Partei zur Basis hin zu öffnen und die Mitglieder damit neu zu motivieren? Diese Chance sollten wir nicht verstreichen lassen. Interview: Matthias Geis