Immer wieder vergewaltigt

■ 80 Zuhörerinnen ließen sich von Andrea Dworkins Texten quälen - US-Feministin las aus ihrem Buch „Erbarmen“

„Es ist ozeanisch, und du ertrinkst, du wirst unten festgehalten, und du kommst nicht wieder an die Oberfläche, und du kannst nicht schwimmen, und du bist noch nicht ganz tot. Es zerstört, und du hörst auf zu existieren, während dein Körper die Schmerzen weiter aushält, und dein Verstand, der unauslöschbare, in deinem Kopf blutet, und trotzdem platzt dein Gehirn nicht. Es ist eine Angst... Es ist Reue darüber, daß du lebst...“

Was bedeutet es, vergewaltigt zu werden? Die Folgen begreifbar zu machen, ist das zentrale Thema von US-Feministin Andrea Dworkin: „Ich will zeigen, was Vergewaltigung bedeutet - und zwar von innen“, erklärte sie jetzt in Bremen. Am Donnerstag abend las die Vielschreiberin (bisher zehn Bücher) auf Einladung des Frauen-Kulturzentrums belladonna im Übersee- Museum aus ihrem neuen Buch „Erbarmen“, und das war anstrengend. Viele der rund 80 Zuhörerinnen (Männer wurden an der Kasse zurückgewiesen) fanden allein schon das Zuhören quälend.

In ihrem Roman wird in der Ich-Form die Entwicklung der Hauptdarstellerin Andrea vom neunjährigen Mädchen zur Frau mit 27 erzählt. Dabei schreibt die Amerikanerin keinesfalls nur über ihre persönlichen Erfahrungen. Was Dworkin von mißhandelten Frauen gehört, auf der Straße beobachtet, in Zeitungen gelesen hat, all das hat sie zusätzlich auf ihre Romanheldin projiziert.

Ein Verbrechen,

für das den

meisten

betroffenen

Frauen

die Worte

fehlen

Entstanden ist eine Kollektiv- Biographie. Deshalb wird Andrea nicht ein-, zwei- oder dreimal vergewaltigt. Sie wird irrsinnig oft vergewaltigt. Und das macht den Text so quälend. Und wichtig, um - so Dworkins Ziel - einen sozialen Wandel einzuleiten und Sichtweisen zu verändern. Denn die Autorin beschreibt auf 380 Seiten ein Verbrechen, für das den meisten betroffenen Frauen die Worte fehlen. Sie ist Sprachrohr für Geschundene und Gequälte.

Als die in New York lebende Autorin in Bremen hinterm Rednerpult steht, die Arme aufgestützt über ihre schwarze Lesebrille hinweg Zuhörerinnen fixiert und mit weinerlich-emotionaler, aber auch wütend-anklagender Stimme liest, glaubt man: Hier erzählt keine Außenstehende über die „Male, Verletzungen, Narben, Stigmata“, mit denen der Körper von Romanfigur Andrea „beschriftet ist“, über die Frau, die sich wie „ein atmender Kadaver“ fühlt und vor Abscheu die Haare „wie in Dachau abrasieren“ läßt. Hier berichtet, stammelt, formuliert eine Betroffene.

„Das Buch zu schreiben, war für mich sehr hart“, sagt die jüdische Autorin am Schluß der Lesung, „ich mußte einen hohen Preis bezahlen.“ Doch die Idee dieser literarischen Aufarbeitung des Themas Vergewaltigung „hat mich einfach nicht mehr losgelassen“. Sie sei besessen gewesen. „Und als ich das Buch beendet hatte“, fügt sie hinzu, „dachte ich, niemand würde das lesen wollen oder können.“ Der große Erfolg in den USA war deshalb eine Überraschung.

Obwohl es an Quälerei grenzt: Die Bremer Lesung und Dworkins Engagement haben angeregt, sich mit „Erbarmen“ auseinanderzusetzen. Immerhin sei es doch viel leichter“, gibt die New Yorkerin zu bedenken, „das Buch zu lesen als es zu schreiben.“

Sabine Komm

Andrea Dworkins Roman „Erbarmen“ ist im Hamburger Klein Verlag erschienen und kostet 48 DM.