Mit dem Walkman in Goethes „Faust“

Standortbestimmung: Das 2. Deutsche Jugend- und Kindertheatertreffen tagte in Berlin  ■ Von Reimar Brahms

Das seit der deutschen Einheit immerhin schon zweite Treffen der Theatermacher und Theaterpädagogen in Berlin war dieses Jahr mit großem Anspruch angetreten: die gesamte Bandbreite der Jugend- und Kindertheaterproduktion wollte man vorstellen. Ohne Ausgrenzung und ästhetische Festlegung sollten nicht die großen „Renner“ gezeigt werden, sondern eine querschnittsgeprägte Auswahl des Divergierenden.

Tatsächlich ist es der dreiköpfigen Auswahlkommission gelungen, mit den zehn eingeladenen Produktionen die unterschiedlichsten Anspruchshaltungen jugendorientierter Theaterarbeit nach Berlin zu holen. Daß dabei notwendig unvereinbar Gegensätzliches aufeinandertrifft, ist eine der Erkenntnisse, die das Arbeitstreffen mitbestimmte.

Das Spektrum der ausgewählten Beiträge reichte von lyrischen, ja poetisch-absurden Spielen für die Jüngsten bis hin zur knallharten, naturalistisch nachempfundenen Skinhead-Darstellung für Jugendliche und Erwachsene. Stimmungsbilder trafen und rieben sich mit gesellschaftspolitischen Ambitionen.

Es wurde deutlich, daß im schönen Freiburg oder reichen München ein anderes Theater gemacht wird (und wohl auch nötig ist) als in Metropolen wie Berlin oder Hamburg.

Die Jury hatte unter dem Motto „Die Klassiker kommen“ Wert darauf gelegt, auf den Vorschub des Literaturtheaters hinzuweisen, mit dem offensichtlich das emanzipatorische, als „unliterarisch“ geschmähte Jugendstück in den Spielplänen allmählich abgelöst wird. Doch die präsentierten Adaptionen von Max Frischs „Andorra“ (Schauburg München), Goethes „Faust“ und Strindbergs „Traumspiel“ (beides Landesbühne Esslingen) bewiesen durchgehend einen Hang zum ästhetischen Egoismus und eine nicht selten überladene Bedeutungsschwere. Die wenigen Jugendlichen in diesen Vorstellungen zeigten sich denn auch vorwiegend desinteressiert und gingen mitunter gar aggressiv zum parallelen Walkmangenuß über.

Sucht das Jugendtheater nach dem Nachweis seiner Professionalität in Anbiederung ans Erwachsenentheater? Das Kinder- und Jugendtheater lebt in der schwierigen Pendelsituation zwischen unermüdlicher Suche nach ästhetischem Selbstverständnis und der nicht minder anstrengenden Suche nach geeigneten Mitteln zur hintergründigen oder offensichtlichen pädagogischen Maßnahme.

Deutlich blieb bei allen offiziellen und inoffiziellen Gesprächen ein innerer Zwiespalt der Macher, einerseits mit höchster Professionalität gegenüber einem immer wieder überraschend unverstellt reagierenden Publikum auftreten zu müssen, andererseits aber mit schelem Auge von den Vertretern und Verwaltern der hohen Kunst angesehen zu werden. Bei allen ideologischen Grabenkämpfen, die während der täglichen Gesprächsforen aufbrachen, hatte das Treffen in diesem Punkt auch etwas von Selbstversicherung und gegenseitiger Beruhigung. Allein das rechtfertigte schon die Fachmesse aller in Sachen Jugend angereisten Mitglieder und Freunde der ASSITEJ, der offiziellen und internationalen Vereinigung von Kinder- und Jugendtheater e.V.

Nicht zuletzt die nunmehr nach Ost und West übergreifenden Kontakte konnten sich seit dem ersten Teffen vor zwei Jahren vertiefen, so daß diesmal der Umgang schon vertrauter war; aber auch die Auseinandersetzung geriet dementsprechend schonungsloser. Das ließ sich gleich am Eröffnungsstück der Werkschau beobachten. Zwar trägt das 1923 von Ferdinand Bruckner expressionistisch aufgeladene Stück „Krankheit der Jugend“ die Zielgruppe im Titel und scheint mit Sätzen wie „Entweder man verbürgerlicht oder man begeht Selbstmord“ genügend Provokationskraft zu haben. Doch erwies sich die Inszenierung der Magdeburger Kammerspiele als ästhetisch völlig überladener Kraftakt, der in der illusionslosen Zustandsbeschreibung ohne Alternativvorschläge mehr verrätselte als offenlegte. Die Jugendlichen der morgendlichen Vorstellung wurden zum ausgeprägten Unruhepotential, und die Fachwelt schüttelte größenteils den Kopf. Auf der mit Aggressionen aufgeladenen Diskussion zum Stück kamen berechtigte Zweifel auf, ob hier von der Jury nicht nur ein schöner Titel herbeizitiert worden war, hinter dem sich ein fast eitles Kunstverständnis verbarg, das voyeuristisch das nackte Fleisch der Schauspielerinnen präsentierte, während sich der Regisseur (Axel Richter) hinter dem Schutzmantel unanfechtbaren Schöpfertums wortkarg zu verbergen suchte.

Der schüttere Vermittlungsversuch des Magdebuger Intendanten Wolf Bunge, daß allein das Reden mit all seinen Mißverständnissen nottue, minimierte das Unternehmen auf einen fast unanständig kleinen gemeinsamen Nenner. Von den Schwierigkeiten der (Fach-)Kommunikation erholte sich das Treffen während der ganzen Woche nur schwer.

Wie ein produktiver Kontrapunkt wirkte da das Gastspiel der Theatergruppe Strahl, die am sogenannten Berliner Tag ihre Produktion „Volltreffer“ vorstellte. Mit unverblümtem Ton und praktischem Zupacken direkt am Problem vermochte dieses Musiktheaterstück über Sexualität und ihre Folgen auf erfrischend ironische Weise Aufklärungstheater und jugendliche Unterhaltung zusammenzubringen. So tot, wie gern behauptet, ist das gute alte, gern geschmähte Aufklärungstheater dann wohl doch noch nicht – unter der Voraussetzung, daß es sich behutsam und nicht brachial der nötigen Mittel bedient. Hier wurde direkt und ohne literarische Schnörkel auf die Bedürfnisse der Kids eingegangen: ein vom jungen und alten Publikum gleichermaßen erleichtert aufgenommenes, gelungenes Experiment.

Statt der ausgewählten Produktion „Speckpferde“ brachte das Theater vom Hamburger Kampnagel aus produktionstechnischen Gründen ihre Skinhead-Trilogie „Abwege – ganz normal nach rechts?“ mit. Thomas Lang, Jurymitglied und Theaterleiter aus Braunschweig, konnte sich bei der Diskussion zu diesem bewegenden

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Abend nicht entblöden, ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß die Jury zu dieser Produktion „nichts zu sagen“ habe und diskreditierte sich und das ganze Unternehmen damit selbst. Dem gern als Enfant terrible der Jugendtheaterlandschaft auftretenden Jürgen Zielinski, Regisseur und Theaterleiter auf Kampnagel, waren damit alle Tore geöffnet in die ästhetisch ziselierten Gedankenkreise, seinen Ruf nach gesellschaftspolitischer Protesthaltung loszuwerden. Wie sehr das Stück „Skins“ des Engländers Trevor Griffith zugestandenermaßen „nur“ die sehr eingeengte Situation einiger jugendlicher Engländer aus dem Jahre 1981 betrifft – die betont naturalistische Darstellung des gewalttätigen Skinverhaltens provozierte eine Emotionalität, die jeden Zuschauer zur Stellungnahme zwingt. Eine Stellungnahme, die aufs engste mit der aktuellen Gesellschaftslage von Jugendlichen und Erwachsenen verknüpft ist. Diese Dringlichkeit fehlte dem Treffen insgesamt erheblich, das immer wieder einmal in Gemütlichkeit und Kaffeerausch zu versinken drohte.

Bei aller ausgestellten Familiarität rund um den von japanischen Kirschblüten harmonisierten Hinterhof des Podewil – die Fachmesse der Jugentheatergemeinde beließ es bei wenigen Kratzern an der Oberfläche und ließ eitler Selbstgenügsamkeit viel zuviel Raum. Da half es wenig, daß der unumstrittene Altmeister des ambitionierten Jugendtheater, Volker Ludwig, immer wieder betonte, jede Form von Theater und nicht nur die seine hätten eine Existenzberechtigung. Die gegenwärtige gesellschaftliche Situation jedenfalls – da war man sich fast einig – verlangt allemal bessere Antworten.