piwik no script img

Historisch gerüstet

Zwischen der „Scala“ und dem „Sportpalast“: Drei neue Bücher spüren dem Berliner Nachtleben der zwanziger und dreißiger Jahre nach  ■ Von Klaudia Brunst

Durch die Friedrichstraße schleichen dieser Tage bei gutem Wetter die Stadtplaner und erinnern sich an vergangene Tage. Behutsam will man diese alte Vergnügungsmeile wieder aufbauen, und das heißt für die architektonischen Denker oft genug: nach altem Vorbild. Und auch der Palast der Republik soll dem Erdboden gleichgemacht werden, um womöglich einem noch älteren Obrigkeitssymbol Platz zu machen – das alte Stadtschloß soll hier wieder an andere, noch ältere Zeiten erinnern. Berlin wird rückgebaut, städteplanerisch, politisch – schließlich ist gerade erst die alte Reichsmetropole zur neuen Hauptstadt erklärt worden – und auch kulturell. Im „Esplanade“ treffen sich wieder die argentinischen Tango-Tänzer, im neuen alten „Wintergarten“ gibt Max Raabe altertümliche Couplet-Abende, und überall in der Stadt verdienen alternative Tanzschulen gutes Geld mit der Renaissance des Tanzvergnügens. All diese Unternehmen von Hellers Wintergarten bis zum ehrwürdigen Esplanade knüpfen mit ihren neuen Angeboten an eine mittlerweile mystisch verklärte Tradition an: Das legendäre Berliner Nachtleben – sogar das gute alte Café Keese profitiert davon.

In der Edition Hentrich bemüht man sich schon seit längerer Zeit darum, diesem alltagskulturellen Mythos, historisch gut gerüstet, auf die Spur zu kommen. Wolfgang Jansens reich bebilderte Geschichte des Varietés ist mittlerweile zum Standardwerk über die „unterhaltende Kunst“ avanciert. In jahrelanger Kleinarbeit hat er den Aufstieg und Verfall der großen Berliner Kleinkunstbühnen zusammengetragen, in zweiundzwanzig Kapiteln zieht das Buch vom „Wintergarten“ in die „Scala“, vom „Plaza“ auf den Rummelplatz. Anders als im Bereich der Hochkultur, wo die Theatergeschichte wohl geordnet in den Archiven dokumentiert ist, gestaltet sich die Geschichtsschreibung der Vergnügungszentren viel schwieriger. Das Angebot war nicht nur kurzweilig, sondern auch – nur für den Moment gemacht – äußerst flüchtig. Lokale öffneten mit Pomp und endeten im Konkurs, die Programme wechselten oft genug wöchentlich, es diente ja alles nur der Unterhaltung.

Was für die Varietés gilt, gilt erst recht für die Tanzlokale. Auch Knud Wolffram, der nun ebenfalls in der Edition Hentrich seine Forschungen über die „Tanzdielen und Vergnügungspaläste“ veröffentlicht hat, mag in seiner Arbeit nicht mehr sehen als den „Versuch, wenigstens in Ausschnitten das Bild eines Zustandes zu rekonstruieren, wie er für die dreißiger und vierziger Jahre typisch war.“

Wenige Namen sind heute noch ein Begriff: Der „Friedrichstadtpalast“ oder das „Delphi“, in dem heute ein Kino residiert, das „Hotel Adlon“ oder das „Esplanade“. Aber wer erinnert sich schon an die ersten Tischtelefone im „Resi“, die 1927 als „soziale Erfindung“ und „Dolmetscher für Schüchterne“ gefeiert wurden, wer kennt noch die Namen der großen Tanzkapellen, die den Swing in die Stadt brachten, wer kann dechiffrieren, daß hinter den Werbeanzeigen, die „größte Preiswürdigkeit, keine Kleidervorschriften“ versprechen, ein Stück Sozialgeschichte der Weimarer Republik steht?

Aus verständlichen Gründen beschäftigt sich Knud Wolffram über lange Seiten seines Buches vor allem mit den Grundrissen, Umbauten und Konkursanträgen der einschlägigen Tanzlokale. Das flüchtige Nachtleben läßt sich nach fünfzig Jahren kaum noch rekonstruieren. So muß man gründlich zwischen den Zeilen lesen, will man der Faszination an den alten „Pläsierkasernen“ (Kracauer) ernstlich auf den Grund gehen.

Auch Wolfgang Jansen kann nur zusammentragen, was noch zusammenzutragen ist. Die zeitgenössischen Zeitungskritiken haben da, wo kritische und unabhängige Rezensionen nicht existierten, nur dürftige Aussagekraft: Die ökonomischen Verflechtungen zwischen Verlegern und Unterhaltungs-Unternehmern war übermächtig, man war auf die großen Anzeigen der Vergnügungslokale angewiesen. „So ist seit Entstehen der Fachpresse 1883 eine schematisierte Besprechung zu finden, die auf den Uneingeweihten erschreckend wirkt und wissenschaftlich fast nicht auszuwerten ist“, muß Jansen einräumen. „Waschzettel-Schreiberei“ nannte das seinerzeit Kurt Tucholsky abfällig.

Und doch sind beide Bücher hilfreich in der Erschließung einer vergangenen, nie vergessenen Alltagskultur, die von der Lust der kleinen Leute am „Amüsemang“ bestimmt war. Der Unterhaltungsbetrieb holte einerseits die große Welt in die Stadt und gab gleichzeitig verruchten Vergnügungen Raum. Seine Chronik sagt vielleicht mehr über die sich so rasch wandelnden Werte aus als die große Geschichtsschreibung.

Mit eben diesem Anliegen ist auch ein drittes Sammelwerk angetreten. Alfons Arenhövel legt in seinem eigenen Verlag ein Kompendium über den Berliner Sportpalast vor: „Arena der Leidenschaft. Der Berliner Sportpalast und seine Veranstaltungen 1910–1973“. An diesem Ort, wie nirgendwo sonst in der Stadt, verband sich das kurzweilige Vergnügen mit den politischen Wirren der Zeit: Da gab es die Sechstagerennen mit ihrem einzigartigen Volksfestcharakter, mit den Varietéeinlagen, dem Palastorchester und mit Reinhold „Krücke“ Habisch, dem radrennbegeisterten Solopfeifer. Aber neben diesen „harmlosen“ Vergnügungsveranstaltungen ist der Sportpalast auch zum Synonym für die politische Mobilisierung der Massen geworden.

Hier wurden in der Weimarer Republik flammende Reden zur „Lage der Nation“ gehalten, alle politischen Gruppierungen trafen sich regelmäßig im riesigen Kreisrund des Sportpalastes: Philipp Scheidemann, Heinrich Brüning, Ernst Thälmann standen auf dem Rednerpult, sprachen in generalstabsmäßig organisierten Großveranstaltungen zu ihren Anhängern, kämpften für ihre Vorstellungen eines besseren Staates. Und auch die nationalen Sammlungsbewegungen beanspruchten jenen Ort für ihre politischen Inszenierungen. Propaganda-Spezialist Joseph Goebbels, der hier den „totalen Krieg“ ausrief, inzenierte schon 1928 den „Kampf um den Sportpalast“, als habe die NSDAP diesen Bau zu erobern.

Auf den ersten 127 Seiten des großformatigen Hochglanzbandes erzählen Arenhövel und seine Autoren die Geschichte dieses Ortes in zuweilen ermüdender Kleinteiligkeit. Zugegebenermaßen bemühen sie sich, das komplexe Phänomen Stück für Stück zu entschlüsseln. Die Arbeit ist aber weitaus reichhaltiger als die 13 einleitenden Aufsätze vermuten lassen: In der fast vierhundert Seiten umfassenden „Chronik der Veranstaltungen“ versteckt sich die soziale und politische Geschichte des Sportpalastes in minutiösen Auflistungen jeder einzelnen Veranstaltung. Die beigefügten Kurzkritiken warten – oft wohl vergeblich – auf den interessierten Leser mit Hang zum archivarischen Stöbern und mit gut gespicktem Geldbeutel: der Band kostet immerhin 128DM.

Die Edition Hentrich hat gut daran getan, ihre Jäger- und Sammlerarbeiten nicht so eitel in Druckwerk umzusetzen, sondern die erzählende Dokumentation mit dem notwendigen Detailwissen anzureichern. Die vielen Abbildungen beider Bände, die zusammenzutragen ein wirkliches Verdienst ist, füllen die Lücke des nicht mehr Beschreibbaren.

Wenn auch das Fazit aller drei Arbeiten darauf hinausläuft, daß die Sozialgeschichte des Berliner Vernügungslebens wohl auch weiter im Dunkel der Nacht verborgen bleibt, vermag die Edition Hentrich jedoch zumindest für den ernstlich interessierten Leser in dieses Dunkel ein kleines Schlaglicht zu werfen.

Knud Wolffram: „Tanzdielen und Vergnügungspaläste. Berliner Nachtleben in den dreißiger und vierziger Jahren“. 241 Seiten, mit vielen Abbildungen. Edition Hentrich 1992. 36DM

Wolfgang Jansen: „Das Varieté. Die glanzvolle Geschichte einer unterhaltenden Kunst“. Beiträge zu Theater, Film und Fernsehen aus dem Institut für Theaterwissenschaft FU Berlin. 293 S., Edition Hentrich 1990. 58DM

Alfons Arenhövel (Hg.): „Arena der Leidenschaft. Der Berliner Sportpalast und seine Veranstaltungen 1910–1973“. 608 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, Willmuth Arenhövel Verlag 1990. 128DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen