Werden Naumanns Träume wahr?

■ Die Bundeswehr, Blauhelme, Out-of-area-Träume und der Streit um die Sicherheits- und Außenpolitik der Zukunft

Die gegenwärtige Umwandlung der Bundeswehr von einer territorialen Verteidigungsarmee zu einer weltweit einsatzfähigen mobilen Truppe ist in ihrer Bedeutung nur mit der Wiederbewaffnung in den fünfziger Jahren zu vergleichen. Mit dieser Einschätzung sind die Autoren des „Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Uni Hamburg“ (IFSH) um den Herausgeber Dieter S. Lutz an den aktuellen Sicherheitspolitischen Streit herangegangen und haben ein Buch vorgelegt, das sowohl informiert als auch mögliche Positionen markiert.

Wer in der gegenwärtigen Unübersichtlichkeit Aufklärung in rechtlicher, militärischer und politischer Hinsicht sucht, hat gute Chancen, in dem schmalen rororo- Bändchen fündig zu werden. Was die Bundeswehr im Lichte der Verfassung kann und darf, wird anhand des Friedensauftrages eingehend analysiert. Geht man von der Verfassung aus – die ja auch ein Verteidigungsminister nicht immer unter dem Arm tragen kann–, verpflichten sich die Regierungen der Bundesrepublik im Verhältnis zu ihren Nachbarn, friedenschaffende und friedenerhaltende Vorleistungen zu erbringen. Mit der jetzt gepredigten Normalisierung haben diese nichts zu tun.

In einem Aufsatz über den Auftrag der Verfassung schildert Lutz die Debatten im damaligen Parlamentarischen Rat bis hin zur heutigen Festlegung militärischer Ziele weit vor jeder Verfassungsänderung. Wer nach Lektüre der Tagespresse das unbestimmte Gefühl hat, Rühe und Co. seien dabei, die Verfassung zu unterwandern, kann bei Lutz nachlesen, wie diese Unterwanderung vonstatten geht.

Bereits jetzt, wo Verfassungsrichter in Karlsruhe vielleicht noch glauben, etwas entscheiden zu können, ist die Bundeswehrführung dabei, möglichst irreversible Fakten zu schaffen. Der eigentliche Sündenfall Volker Rühes sind die Verteidigungspolitischen Richtlinien vom 26. November 1992, die der Verteidigungsminister am Parlament vorbei in Kraft setzte. Darin redet Rühe Klartext, macht er deutlich, wie weit die amtierende Bundesregierung bereits von der Vorstellung der Verteidigungsarmee entfernt ist. „Deutschland ist eine kontinentale Mittelmacht und exportabhängige Industrienation. Zu den vitalen Sicherheitsinteressen deutscher Politik gehört deshalb die Aufrechterhaltung des freien Welthandels und ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung.“ Die Bundeswehr als Instrument für die Fortsetzung der Gatt- Verhandlungen mit anderen Mitteln?

Detailliert beschreibt Götz Neuneck, wohin die Bundeswehr marschiert und was der Bundeswehrplan 94 vorsieht. Entworfen hat die Verteidigungspolitischen Richtlinien ein Mann, der in letzter Zeit auch einem größeren Publikum immer mal wieder als ein Militär auffiel, der es mit dem Primat der Politik nicht so genau nimmt: Generalinspekteur Klaus Naumann, oberster deutscher Soldat. In seinem Rückblick auf die Entwicklung der letzten drei Jahre, in denen die Bundeswehr nach ihrer neuen Aufgabe suchte, zitiert Reinhard Mutz aus einem Vortrag Naumanns, der vieles erklärt, was zunächst nur Desorientierung zu sein schien. Bereits am 27. Februar 1989, die Mauer stand noch, die neue Souveränität der Bundeswehr war noch von niemandem zu erahnen, sagte Naumann, damals als Generalmajor zuständig für die Abteilung Militärpolitik im Führungsstab der Streitkräfte, in einer Ansprache vor Kollegen: „Die deutsche Einschätzung der Rolle militärischer Macht ist es, die unsere Position im Bündnis so ungeheuer erschwert. Staaten, die aus Tradition ein gewachsenes und gesundes Verhältnis zur Macht haben, sehen die Zukunft der Rolle militärischer Macht im globalen Kontext weit nüchterner, weit objektiver als wir. Wir haben infolge unseres Verhaftetseins aus geschichtlicher Erfahrung in einem Versöhnungs- und Friedenspathos Probleme, uns mit der legitimen Anwendung von Gegengewalt auseinanderzusetzen. Solange wir diesen Widerspruch nicht auflösen und uns zur militärischen Machtanwendung bekennen können, werden wir im zusammenwachsenden Europa eine untergeordnete Rolle spielen, werden Politik- und Handlungsfähigkeit verlieren.“

Wer Kinkel und Rühe im letzten Jahr verfolgt hat, kann leicht feststellen, in welchem Maße sie sich das Credo ihres Generals zu eigen gemacht haben. Normalität ist das Stichwort, hinter dem sich verschämt der Begriff Kriegführungsfähigkeit verbirgt. Eine Kriegführungsfähigkeit, die obendrein der Normalität von gestern, den Interessen von Nationalstaaten angepaßt wird, statt sie zumindest in den Dienst einer internationalen Ordnung zu stellen. Wie die für Europa aussehen könnte, ist jüngst vom IFSH als Vorschlag für eine europäische Sicherheitsordnung vorgestellt worden. Jürgen Gottschlich

„Deutsche Soldaten weltweit?“ Rowohlt aktuell, Hg. Dieter S. Lutz, 10,90 DM