Der ferne Klang

Ein Gespräch mit Christopher Page, Leiter der Gothic Voices, über die Musik des Mittelalters und die Probleme einer historischen Aufführungspraxis  ■ Von Christoph Wagner

„Über den Klang der Musik vor 1500 wissen wir so gut wie nichts wirklich sicher“, schreibt Nikolaus Harnoncourt in einem Essay über die Schwierigkeiten einer historisch authentischen Aufführungspraxis Alter Musik. Deshalb kann es sich bei einer Rekonstruktion des Klangbilds mittelalterlicher Musik immer nur um Annäherungen handeln, die mehr oder weniger plausibel erscheinen. Seit den Anfängen der Frühe-Musik-Bewegung vor 25 Jahren hat dieser große interpretatorische Spielraum einen enormen Entwicklungsprozeß in Gang gesetzt. Heute gilt die englische „Early-Music“-Szene als die international führende. Vor allem im Bereich der Vokalmusik haben sich durch die Engländer die Standards deutlich nach oben verschoben. Die Gruppe Gothic Voices unter ihrem Leiter Christopher Page spielt dabei eine herausragende Rolle. Christopher Page ist Dozent für mittelalterliche Literatur am Sidney Sussex College in Cambridge, in dessen altem Gemäuer das Gespräch auch stattfand.

taz: Mit Ihrer Gruppe Gothic Voices arbeiten Sie an einer Rekonstruktion mittelalterlicher Musik. Welcher interpretatorische Fortschritt wurde dabei im letzten Jahrzehnt erzielt?

Christopher Page: Die Frühe- Musik-Szene in England hat sich anders entwickelt als auf dem Kontinent oder den USA. Ein Deutscher hat einmal behauptet, England sei „das Land ohne Musik“. Das stimmt nicht. England hat eine natürliche musikalische Tradition und das ist die vokale Tradition der Kathedralen, Kirchen und Colleges. Diese Tradition bringt eine eigenständige Art des Singens hervor. Das ist der Grund, warum wir in England viele mittelalterliche Musik als Vokalmusik betrachten und zuerst in Gesangskategorien denken und erst später an Instrumentalisten. Im Gegensatz dazu ist eine so renommierte Mittelalter- Gruppe wie Sequentia aus Deutschland zuerst ein Ensemble von hochbegabten Instrumentalisten, die gegebenenfalls durch Vokalisten ergänzt werden.

Aber die englischen Pioniere der Early Music fingen doch alle mit Instrumentalmusik an?

Richtig. Viele der wichtigen englischen Gruppen wie Musica Reservata, das Early Music Consort oder das New London Concort wurden von Instrumentalisten gegründet. Trotzdem: Alle Sänger dieser Ensembles wurden in Kathedralen-Chören ausgebildet. Sie kommen alle aus diesem Stall. Seit 15 oder 20 Jahren gibt es eine neue Schule des englischen Gesangs, die zweifellos ihr Fundament in dieser Tradition hat. Bei Gruppen wie den Tallis Scholars, The Sixteen oder dem Hilliard Ensemble kommen die meisten Sänger aus Chören aus Oxford oder Cambridge, und bei Gothic Voices ist es dasselbe. Und diese Vokalgruppen produzieren einen Klang, der in gewisser Beziehung und trotz all seiner Mängel international als exzellent angesehen wird, etwa was die Reinheit der Stimmung betrifft. Gothic Voices hat seine Wurzeln in dieser Vokaltradition, und über die Jahre haben wir jede Art von mittelalterlicher Musik erkundet durch den Gesang und ohne Instrumentalisten.

Hat Gothic Voices als reines Vokalensemble angefangen?

Ja, von Anfang an. Ich hatte diese Theorie in den Siebzigern. Ich war überzeugt, daß die meiste mittelalterliche Musik nur von Stimmen aufgeführt wurde. Das war die These, die ich in die Diskussion um die authentische Aufführungspraxis eingebracht habe und die heute mehr und mehr akzeptiert wird.

Wie entstand diese Klangvision? Was waren ihre Einflüsse?

Im Jahre 1977 führte Andrew Parrots Taverner Choir die „Messe de Notre Dame“ von Guillaume de Machauts (1305–1377) im Münster von York auf. Das war a capella, und ich war sehr beeindruckt. Von diesem Zeitpunkt an fühlte ich, daß, im Vergleich zu den Rekonstruktionen dieser Musik mit Instrumenten, Stimmen weit größere Möglichkeiten boten. Aber die Suche nach dem richtigen Klang war weit grundsätzlicher eine Suche nach Ausgewogenheit. Wenn man sich ein dreistimmiges Stück vorstellt, bei dem die Oberstimme gesungen wird, während die beiden anderen Stimmen von einer Laute und einer Fidel gespielt werden, dann hat man drei völlig verschiedene Klänge, und das Resultat ist wie bei einem Röntgenbild: Man sieht nicht das Ganze, sondern nur das Skelett. Es gibt keine klangliche Ausgeglichenheit, und deshalb wird das Stück als ein Gesamtes nicht hörbar. Wenn man dagegen drei Vokalstimmen einsetzt, gibt es eine Homogenität, die die Akkorde klarer hervortreten läßt. Und das war, wonach wir suchten. Mittelalterliche Instrumente klangen für meine Ohren nicht schön genug: zu dünn! Ich wollte mehr.

Die Art der Interpretation ist einem Entwicklungsprozeß unterworfen. Wie veränderte sich Ihr Standpunkt?

Viele mittelalterliche Lieder, etwa von Machaut, bestehen aus einer Stimme mit Text und zwei oder drei Stimmen ohne Text. Am Anfang sangen wir den Text in allen Stimmen. Was wir allerdings in den letzten fünf Jahren herausgefunden haben, ist eine neue Vokaltechnik, bei der die Sänger die textlosen Stimmen auch wirklich ohne Text singen. Sie singen immer nur ein und denselben Vokal, damit die Begleitstimmen nicht der eigentlichen Führungsstimme mit Text in die Quere kommen. Das Problem war nun: Wie singt man die Begleitstimmen ohne Worte? Daran haben wir gearbeitet und eine Technik entwickelt, die einen speziellen Vokal benutzt, mit dem es funktioniert. Für die französische Musik des Mittelalters ist es der Selbstlaut „ü“, wie er etwa im Wort „tu“ vorkommt. Er ist sehr hell, aber aus akustischen Gründen reibt er sich nicht mit der Führungsstimme mit Text.

Wie haben Sie das herausgefunden?

Durch Experimentieren. Wenn man einem englischen Sänger sagt, er solle etwas ohne Text singen, benutzt er den Vokal „a“. Der „a“- Selbstlaut ist aber ein sehr lauter Vokal. Wenn man also die Begleitstimmen auf dem Vokal „a“ singt, deckt es die Textstimme völlig zu. Bei „ü“ kann man die Textstimme dagegen immer noch gut hören. Das „ü“ ist nicht so breit und hat klare Kanten, wie ein genau umrissener Punkt.

Jede Musik ist ein Spiegel ihrer Zeit, aber auch jede Interpretation. Wenn sich Ihre Auffassung von mittelalterlicher Musik gewandelt hat, muß sich auch Ihr Bild vom Mittelalter verändert haben?

Seit vielen Jahrhunderten gibt es eine bestimmte Sichtweise des Mittelalters – als Irrweg: die mittelalterliche Odyssee. Eine Reise, die den Westen von seinem wahren Erbe wegführte, um am Ende, nach vielen Irrungen, doch wieder heimzukehren. Das war die Renaissance, die Wiedergeburt seiner wahren Bestimmung. Je mehr ich mich allerdings mit mittelalterlicher Musik befaßte, desto mehr verstärkte sich der Eindruck, daß diese Zeit keineswegs eine fremde und düstere Epoche war. Die sogenannte Andersartigkeit des Mittelalters – die Fremdheit – ist etwas, was verschwand, je länger ich mich mit der Musik befaßte. Als professioneller Mediävist gefällt mir der Gedanke eines „Mittel-Alters“ überhaupt nicht. Der Ausdruck suggeriert, daß es eine Periode „dazwischen“ war – zwischen der Antike und der Renaissance. Das ist nicht gerade eine sehr vorteilhafte Bezeichnung, als ein Mittelteil betrachtet zu werden. Ich dagegen sehe das Mittelalter als zentrales Zeitalter an, mit der Antike und der Renaissance an seiner Peripherie. Aber dieser Blickwinkel wird wahrscheinlich von niemandem sonst geteilt.

Das Bild des Mittelalters, das früher von diversen Musikgruppen gezeichnet wurde, war das eines lustig-derben Zeitalters mit großen Festen und Fressen und Saufen auf der einen Seite. Andererseits gab es die Vorstellung vom dunklen Mittelalter – das Zeitalter der Inquisition und der Hexenverbrennungen. Die neuere Geschichtsschreibung hat dieses Bild korrigiert, etwa die Arbeiten der französischen Historikerschule der „Annales“. Wurde davon Ihre Musik beeinflußt?

In Frankreich und Amerika wird mittelalterliche Musik bis heute oft noch auf diese Weise präsentiert, in Kostümen und szenischen Inszenierungen. Wenn man die Musik der Vergangenheit aufführt, interpretiert man die jeweilige Komposition, aber gleichzeitig auch die Vergangenheit. Wenn man ein Stück von Machaut aufführt, sagt man damit dem Publikum: „Das war der Klang, den Machaut als akzeptabel angesehen hat, ja vielleicht sogar als schön.“ Also macht man eine Stellungnahme über Machauts Geschmack. Und das ist, worum sich die „Annales“-Historiker gekümmert haben. Sie haben herausgearbeitet, wie die Menschen gedacht haben, wie sie gefühlt haben, welchen Geschmack sie hatten, was sie beeindruckt und was sie erfreut hat. So gesehen ist die Aufführungspraxis eine Aussage über Mentalität.

Wie ist Ihr heutiges Bild des Mittelalters?

Johan Huizinga hat ein Buch geschrieben über den „Herbst des Mittelalters“, das 1919 erschienen ist. Dort wird eine ganz neue Sichtweise über das späte Mittelalter ausgebreitet. Ein Zeitalter im Niedergang, das seine Energie verloren hat, das keine Wertbegriffe mehr hat, wo die Religion hohl und leer ist und die Welt voller verrückter Leute. Je mehr ich die Musik des 15.Jahrhunderts studiere, desto mehr scheint mir, daß wir im Gegensatz dazu eine recht vernünftige und geistig normale Epoche vor uns haben, mit einem großen Feingefühl und einem enormen Sinn für Form. Je mehr ich also Musik von Guillaume Dufay (1400–1474), Anthoine Bunois (1430–1492) oder Gilles Binchois (1400–1460) anhöre, desto mehr habe ich das Gefühl, daß ich diese Menschen sehr gut verstehe. Sie erscheinen mir gar nicht so fremd, sondern werden mir immer vertrauter. Dagegen kommt mir die Sichtweise von Huizinga immer abwegiger vor.

Gothic Voices sind auf die Zeitspanne von 1350 bis 1450 spezialisiert. Warum?

Es gibt nicht so viel Musik in der ersten Hälfte des 14.Jahrhunderts. Es fängt um 1350 erst richtig an. Das französische Lied von Machaut und Dufay erscheint mir sehr aufregend und sehr überraschend. Es passieren alle möglichen eigenartigen Dinge. Von Solage etwa, einem Komponisten, der in der zweiten Hälfte des 14.Jahrhunderts gelebt hat, sind nur ungefähr zehn Stücke überliefert, aber sie sind alle sehr eigenwillig, und er wollte wirklich an die Grenzen der kompositorischen Möglichkeiten seiner Zeit gehen. Im 15.Jahrhundert wird alles mehr kontrolliert und diskret, aber behält immer noch eine Schönheit, die nach meinem Urteil in der Renaissance verlorenging. In der Renaissance gibt es eine Gleichförmigkeit – alles wird vorhersehbar, es ist immer wohlklingend, immer schön und paßt immer zusammen, während Machaut noch musikalische Risiken einging. Bei ihm fühlt man sich oft auf der Kante, kurz vor dem Absturz. Niemand im 16.Jahrhundert begibt sich in seiner Musik derart in Gefahr.

Also schätzen Sie die Widersprüche in der Musik?

Ich bin deshalb an der französischen Musik des 14.Jahrhunderts interessiert, weil sie mir so waghalsig und experimentell erscheint. Und am 15.Jahrhundert interessiert mich die Schönheit, die aber noch nicht so billig zu haben ist wie in der Renaissance, sondern Frische und Neuartigkeit ausstrahlen. Nichts gegen die Renaissance, es gibt dort wunderbare Musik, etwa von Josquin, Thomas Tallis oder Tomas Luis de Victoria. Das sind selbstverständlich wunderbare Künstler.

Hat die mittelalterliche Musik eine Bedeutung für die Gegenwart, die über ihren ästhetischen Genuß hinausgeht?

Das Mittelalter ist eine sehr international ausgerichtete Epoche. Es war üblich zu reisen, vor allem für Musiker und Gelehrte. So gibt es einen englischen Komponisten, Robert Morton, der am Hof von Burgund diente. Bei Gilles Binchois gibt es auch eine englische Verbindung zum Grafen von Suffolk. Und John Dunstable, der Komponist, Astronom und Mathematiker war, hatte ein Schloß in Frankreich, obwohl er in den Diensten von Heinrich V. von England stand. Das ist also eine Periode internationaler musikalischer Kontakte. Das ist überraschend, denn viele Menschen stellen sich die Kultur des Mittelalters als sehr insular und abgeschlossen vor. Das Gegenteil ist der Fall. Auch wenn sich nichts schneller als ein Pferd bewegen konnte, verbreiteten sich die Dinge doch sehr rasch. Die Musik, von der wir dabei am wenigsten wissen, ist die mündlich tradierte Instrumentalmusik: die improvisierte Tanzmusik der Dörfer oder auch der Höfe. 90 Prozent der Musik, die von mittelalterlichen Instrumentalisten gespielt wurde, wurde nie aufgeschrieben. Es gab so eine Art internationales Repertoire. Jeder reisende Musiker kannte diese Stücke und konnte Variationen darüber spielen. Deshalb konnten Musiker wohl miteinander musizieren, obwohl sie nicht miteinander reden konnten. Man kannte die Stücke auswendig. Sie waren das professionelle Eigentum der Musiker.

In der Anfangszeit der Alte- Musik-Bewegung wurde viel experimentiert. Heute scheint sich dagegen eine Art Orthodoxie breit zu machen, die vorschreibt, wie eine bestimmte Musik aufzuführen sei?

Die Pioniere der Frühen Musik, etwa die Gruppe Musica Reservata, waren stark von ethnischer Musik des Balkans beeinflußt. Sie brachten diese Techniken ein. Durch die Hinwendung zur mehr vokalen Aufführungspraxis ging dieser Impuls verloren. Die experimentellen Gruppen wurden marginalisiert. Es stimmt, früher wurde mehr provoziert. Allerdings glaube ich auch, daß es sehr einfach ist, ein Publikum davon zu überzeugen, daß etwas authentisch ist, wenn es nur fremd genug klingt, weil die Zuhörer Fremdheit mit Authentizität gleichsetzen. Wenn man die Vergangenheit als fremdartig ansieht, akzeptiert man fremdartige Musik als alte Musik. Dagegen ist es viel schwieriger, einigermaßen vertraut zu klingen und trotzdem als authentisch zu gelten.

Platten von Gothic Voices:

*The Study of Love – French Songs and Motets of the 14th Century. Hyperion CDA 66619

*The Medieval Romantics – French Songs and Motets 1340–1440.

Hpyerion CDA 66463

*Lancaster and Valois – French and English Music 1350–1420.

Hyperion CDA 66588

Konzerte:

Gothic Voices sind heute um 20 Uhr in Stuttgart (Leonhardskirche) im Rahmen der Internationalen Festtage Alter Musik zu hören.