Tränen eines Tennis-Hools

■ Tennis: Michael Stich gewinnt die German Open und zeigt sich als heulendes Muttersöhnchen von der allermenschlichsten Schlagseite

Michael Stich gewinnt die German Open und zeigt sich als

heulendes Muttersöhnchen von der allermenschlichsten Schlagseite

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2å Hier soll keine Rede sein von Chronistenpflicht, eher von einer Tugend, von einer historischen Stunde, die zu vermelden eher zu den Zufällen des Daseins im schreibenden Gewerbe gehört. Die Rede ist von einem Sonntag, den 9. Mai 1993. Ort: ein rotsandiger Platz am Hamburger Rothenbaum.

Um 16.31 Uhr an diesem Nachmittag war der Russe Andrej Tschesnokow nicht mehr in der Lage, dem Spiel des gebürtigen Elmshorners Michael Stich Paroli zu bieten. In vier Sätzen schließlich gewann er das Turnier am Rothenbaum. Na und? Was aber nach dem Match passierte, läßt sich nur zusammenfassen mit den Worten: Das Turnier, also Zuschauer, Funktionäre und eben sein Sieger, fanden zu sich selbst, zueinander, miteinander, mithin: zu gültiger Authentizität. Denn Michael Stich, diese Figur aus dem Reich des arrivierenden Mittelstandes, ließ seinen Gefühlen am Ende dieses, seines Tages freien Lauf. Er weinte, schluchtze und schüttelte vor Rührung sein Gemüt, daß die Zuschauer Gänseschauer überfielen.

Was von der Stichschen Laudatio nicht erstickt wurde vom Fluß der Tränen, war so echt wie sonst nur Fußball vom Schlage des FC St. Pauli: Sitte und Gesittung fielen in eins. „Es war mein Traum, hier einmal zu gewinnen“, hörte man, und auch, daß er als Junge mit seiner Familie, die zum Rothenbaum schon als Mitglieder der bissigen (Mittel-)Stände pilgerten, all die „Spieler gesehen habe“, denen nachzueifern ihm wichtiger war als der Jubel bierseliger Massen auf Fußballrängen. Auf dem Court also bedankte sich ein ehemaliger Tennis-Hool bei den Leuten für die Unterstützung bei der Erfüllung seiner Träume.

Und sie danktem ihm sehr: langanhaltender Beifall. Motto: Ja, wir verstehen Dich, Deine Tagträume und Deine Begierden. Sie mögen einen wie ihn in Wirklichkeit nicht

1so sehr, schließlich ist er zu sehr wie sie, so profan, so klebrig in der Ambition, aus der Masse emporzusteigen, wo doch Leuten seiner Provenienz schon der Edelbungalow von der Architektenstange genug zu sein hat. Vielleicht war das die einzige Differenz zwischen Stich und den Rängen.

Im übrigen werden sie sich an seine Frau Jessica gewöhnen müssen, der er ebenso seinen Dank widmete, wie er via TV-Übertragung sämtlichen Müttern dieser Welt einen glücklichen Muttertag

1entgegenflennte, der brave Junge aus Elmshorn. Was vor einem Jahr noch als PR-Gag verhämt wurde, eine Alliance zwischen Stich und einer Schauspielerin, die nach einigen Jahren der Partnerschaft mit dem inzwischen verstorbenen Mittelklassemann Michael Westphal, mit der Bindung an Michael Stich sich selbst in der Weltrangliste nach oben katapultierte, wird vielleicht inzwischen respektiert. Gestern durften „Michi“ und „Jessi“ jedenfalls ihren familiären Triumph auskosten. Arne Fohlin