Zukunft wird nachgeholt

Mechanische Saurier, zu bestaunen in der Mitte Berlins: Zum Gedenken an Robert Smithson, der vor zwanzig Jahren starb. Und was bringt, im Vergleich, ein Christo?  ■ Von Friedrich Meschede

Das Feuilleton der Hauptstadt hat ein neues Reizwort, und das heißt „Wrapped Reichstag“, ein Projekt des weltbekannten Christo. Das Vorhaben ist bemerkenswert. Es hat sich eine solche Autorität geschaffen, daß Politiker zu Kunst Stellung beziehen müssen; wenngleich die Statements wenig Vorkenntnisse verraten. Berlin diskutiert Christo und propagiert damit eine Kunst, die ungeeignet ist, politisch gedeutet zu werden. Christos Kunstvorstellung wurzelt im Surrealismus, und seine bisher realisierten Projekte transformieren eine Landschaft für eine befristete Zeit in ein Traumland, das selbstverständlich fasziniert, ein Bild schafft, aber kaum Erkenntnis durch das Bild, das so aufwendig suggeriert wird. Die surrealistische Vorstellung findet in den zahllosen Zeichnungen und Collagen ihren überzeugendsten Ausdruck, wenn es Christo gelingt, wie in einer Collage von 1986, mit der nun die Berliner Hypothekenbank für „Zeichen des Neubeginns“ wirbt, ganz Berlin-Mitte verpackt zu sein scheint. Wozu also das Spektakel, wenn alle Skizzen bereits alles vermitteln?

Das Projekt entstammt einer Zeit, als in Amerika die Land-Art manifestiert wurde, zu der man Christo gezählt hat. „Wrapped Reichstag“ wurde genau zu der Zeit von Christo projiziert, als der bedeutendste Begründer und Vertreter dieser Kunstform, Robert Smithson, einem tragischen Unfall zum Opfer fiel. Smithson wäre heute ebenso alt wie Christo.

Im Sommer 1973 arbeitet Smithson an seinem Projekt „Amarillo Ramp“. Als er es aus der Luft fotografieren will, stürzt die Maschine ab, Smithson, sein Fotograf und der Pilot verunglücken tödlich. Weit jenseits der Wahrnehmung eines Christo kann man — mit der Gedankenwelt Robert Smithsons im Kopf — zur Zeit in Berlin faszinierende Bilder wahrnehmen: In seinem Sinne wird die Baustelle der Friedrichstadtpassagen zu einem beeindruckenden Umschlagplatz für Bilder.

Robert Smithson arbeitet 1970 an einem Projekt, das heute zur Ikone der Land-Art geworden ist, „Spiral Jetty“. In einem Salzsee im US-Bundesstaat Utah, fernab von den Kunstzentren seines Landes, schüttet Smithson mit Lastwagen und Baggern aus Steinen eine Mole auf, die sich spiralförmig vom Land aus in den Salzsee windet. Smithson, dessen Vorstellungswelt in der amerikanischen Science-fiction-Literatur verankert ist, drehte einen gleichnamigen Film, in dem er die Bewegungen der Lastwagen und Bagger zusammenschnitt mit Sequenzen, die er im Naturkundemuseum in New York aufgenommen hatte. In schneller Schnittfolge wechseln also Bilder, die die Greifbewegung einer Baggerschaufel zeigen, mit den Bewegungen von Dinosauriern, wie sie die fiktionalen Panoramen des Naturkundemuseums zu konstruieren suchen. Bei einigen Sequenzen ist der Darstellung von Dinosauriern das Geräusch der Lastwagen unterlegt, wenn sie Steingeröll aufschütten, ein ohrenbetäubender Lärm, der die Archaik der Bilder steigert, wenn auch klar ist, daß der Lärm nur das Entladen des Lastwagens wiedergibt. In anderen Nahaufnahmen kombiniert Smithson Köpfe der Saurier mit den hydraulischen Bewegungen der Maschinen, er verbindet die Fiktion der Vergangenheit mit der Vision seiner Skulptur. Entsprechend findet er zu dem Ausdruck von mechanical dinosaurs für die Maschinenwelt. Mit diesen unvergessenen Eindrücken des Films „Spiral Jetty“ erscheint mir die Baustelle der Friedrichstadtpassage wie das größte Kunstwerk im öffentlichen Raum, das Berlin derzeit vorzuweisen hat, ein zeitgenössisches Land-Art-Projekt mitten in der Stadt.

Begrenzt von der Friedrichstraße im Osten, von der Glinkastraße im Westen, der Französischen Straße im Norden und der Taubenstraße im Süden schaut man in ein gewaltiges Loch. Seit Baubeginn hat man das Skelett der alten Passagen abgetragen, die Fundamente aufgesprengt, bis Erde sichtbar wird. Zahlreiche Bagger haben Rampen angelegt, um Zufahrten für die Lastwagen zu schaffen, dann wurden diese Formen erneut abgetragen, um dem amorphen Loch allmählich eine geometrische Form zu verleihen. Lotrecht stehen jetzt die Wände aus Eisenprofilen. Unter den verschiedenen Wetterbedingungen nimmt die Erde unterschiedliche Gestalt an, mal wird Schlamm transportiert, mal werden Brocken bewegt. Die Schwenkbewegungen der Bagger, die sich im Rhythmus das Material vor die Schaufeln arbeiten, gleichen in dieser Dimension schon einem maschinellen Ballett. Hier ist Erde zu sehen, mitten in der Stadt, inmitten der Architektur. Immense Volumen werden täglich umgewälzt, wie archaische Wesen arbeiten die Maschinen in diesem Loch. An den Rändern türmen sich Silos auf, die selbst zur Architektur werden. Leitungen und Rohre durchziehen das Areal wie freigelegte Nervenbahnen.

Robert Smithson hat 1969 in Rom einen Lastwagen voll Asphalt über eine Halde abgekippt, so daß die schwarze Masse wie Lava nach einem Vulkanausbruch sich über den Abhang ergoß; 1970 hat er eine Hütte unter Erde begraben („Partially Buried Wood Shed“), und er zeichnete ein „Floating Island“, ein Containerschiff, das einen Garten auf dem Hudson um die Insel Manhatten schippert. Diese Bilder kommen zu Bewußtsein, wenn heute die zahllosen schwarzen Transporter Erdreich durch Berlin fahren, eine tägliche Performance für denjenigen, der bereit ist, hier eine Schönheit zu entdecken, auf die Smithson's Kunst die Aufmerksamkeit erst gelenkt hat.

Im Unterschied zu Robert Smithson, dessen Ideen beeinflußt waren vom Begriff der Entropie und damit geprägt sind von der Erkenntnis, daß Prozesse unumkehrbar sind, haben andere Künstler der Land-Art Stätten geschaffen, die einen kultischen Charakter auszudrücken suchen. Mike Heizer wäre hier zu nennen und Walter de Marias „Lightning Field“. Smithsons Skulpturbegriff geht von der Materialität der Stoffe aus, die er verwendet, mit ihnen veranschaulicht er Prozesse. Die physikalischen Lehrsätze der Thermodynamik, die die Begriffe Energie und Entropie definieren, waren leitmotivische Vorgaben, die Smithson in seinen Skulpturen, Aktionen, Fotografien und Zeichnungen immer bedacht hat. Daß die „Richtung“ der Zeit spürbar werden kann, daß die Umwandlung von Energie immer linear und irreversibel ist, dies hat die Bilderfindung von Smithson bestimmt und ihm die Erkenntnis vermittelt, daß Geschichte nicht zu rekonstruieren ist. Walter de Maria war es, der im Mai 1960 ein Statement über die Wichtigkeit von Naturkatastrophen veröffentlichte, in dem er Erdbeben, Tornados und Überflutungen huldigte: Smithson aber hat den Versuch unternommen, die Naturereignisse zu kultivieren, indem er bildnerische Chiffren für sie erfunden hat. Ebenfalls 1960 hat de Maria in dem Text „Art Yard“ ein Happening vorgeschlagen, bei dem mit Bulldozern und mit Hilfe von Sprengstoff ein großes Loch geschaffen werden sollte. Schon sehr bald nach diesen Chaos-Visionen findet de Maria zu präzise gestalteten Eingriffen in die Landschaft, die keine Anarchie mehr verspüren lassen. Robert Smithson hingegen revoltiert gegen die Statuarik der Skulptur, gegen die kultischen Orte und erst recht gegen die Verkleidung der Landschaft, wie Christo sie betreibt. Smithsons Texte reflektieren die Rolle des Künstlers nach Maßgabe einer technisierten Welt.

Zusammen mit Sol LeWitt, Robert Morris und Carl Andre hatte er ein Gesamtkonzept für die Gestaltung eines neuen Flughafengeländes entwickelt, mit künstlerischen Arbeiten, die nur von der Luft aus zu sehen gewesen und aus der Bodenperspektive nahezu verschwunden wären. Das war dem Auftraggeber zu radikal, man entzog Smithon die „Kunst am Bau“- Beteiligung. Die Idee zu diesem Projekt dokumentiert sein Anliegen, die Funktion der Kunst in der Gesellschaft neu zu definieren, immer im Bewußtsein um die Tatsache, daß sie in ihre alte Rolle nicht wieder einzusetzen wäre; so wie auch die Zeit nicht umkehrbar ist. In seinen Zeichnungen hat Robert Smithson Motive geprägt, die eine völlig neue Deutung ikonographischer Symbole zuläßt, er hat die Tradition einer amerikanischen Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts, die an der europäischen Romantik ausgerichtet war, übertragen auf die ersten verlassenen Industrieregionen seiner Heimat New Jersey. Die ausgebeutete Industrielandschaft aber hatte für ihn plötzlich neue, unentdeckte Anziehungskraft. Zusammen und zeitgleich mit Bernd und Hilla Becher sieht Smithson in den aufgegebenen Anlagen „anonyme Skulpturen“. Wer bereit ist, aus diesem Blickwinkel heraus Berlin-Mitte zu betrachten, der entdeckt mehr Seherlebnisse, die erzählen, erinnern und Erkenntnisse wecken, als so manche Skulptur in Berlin dies vermag. Mit Christo hingegen, stolz-modern am Revers ausgetragen, wird in Berlin Zukunft nachgeholt.

Friedrich Meschede, Jahrgang 1955, war drei Jahre lang Leiter des Westfälischen Kunstvereins in Münster. Seit Oktober 1992 ist er Projektleiter für Bildende Kunst beim daad Büro Berlin.