Die getanzte Kapitulation

Wohl zum letzten Mal stellten die in Wünsdorf stationierten, einst sowjetischen, jetzt russischen Soldaten der Westgruppe den Sieg über die deutsche Wehrmacht nach  ■ Aus Wünsdorf Michaela Schießl

Wenn Soldaten singen und tanzen, vergißt man für einen Moment, daß sie zum Töten da sind, und zum Getötetwerden. Doch die, die da auf dem Militärsportplatz nahe dem kleinen Dorf Wünsdorf singen und tanzen, so ausgelassen und mitreißend, daß man sich am liebsten einreihen möchte, sie singen und tanzen gegen das Vergessen an: Die einst sowjetischen, heute russischen Soldaten der Westgruppe feiern den Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation der Hitlerarmee. Zum 48. Mal wird dieser Tag nunmehr begangen, doch in Wünsdorf bei Zossen zelebriert man anders als woanders. Aus historischem Grund: Das riesige Kasernengelände war einst das Hauptquartier des deutschen Wehrmachtsstabes, das Zentrum der faschistischen Kriegsmacht. Das Areal soll von unterirdischen Gängen durchwoben sein, von riesigen Bunkern ist da die Rede und einer geheimen Telefonzentrale.

Doch der Blick bleibt Außenstehenden verwehrt. Vergangenes Jahr durften zum ersten Mal Journalisten dabeisein. Unter strenger Beobachtung, wie dieses Jahr auch: „Wir werden Sie bei Ihrer Arbeit nach Kräften unterstützen“, sagt der Presseoffizier. „Im Gegenzug bitten wir Sie, sich unseren Forderungen zu fügen.“ Im Gänsemarsch geht's zu den reservierten Plätzen neben der Offizierstribüne, die ächzt unter der Last der dicken Bäuche und schweren Orden. Die Sitze rund um den Sportplatz füllen sich mit blutjungen Soldaten, ihren Frauen und Kindern. Von den Deutschen aus den benachbarten Dörfern sind die Offiziellen geladen, Normalbürger müssen leider draußenbleiben. Was ein Jammer ist, denn tatsächlich ist die Veranstaltung sehenswert. Die Russen spielen die Kapitulation nach.

Nur der Anfang ist traditionell: sechs Soldaten, die das Nationalbanner tragen. Eine Militärkapelle, die die Nationalhymne spielt. Generaloberst Mitjuchin spricht Begrüßungsworte. Dann weicht die knöcherne Stechschritt- Dramaturgie einem Schauspiel, das mehr an ein Musical erinnert als an eine Militärfeier.

Soldaten tanzen fröhlich mit Frauen in leichten Sommerkleidchen, Kinder spielen ausgelassen auf dem Rasen. Plötzlich erfüllt Kanonendonner die Luft. Der Krieg kommt, tränenreich verabschieden sich die Paare. Ein Bataillon bewaffneter Soldaten tritt an, formiert sich im Halbkreis und tanzt den Krieg. Zwei Soldaten haben Mikrofone. Mit glasklarem Tenor und eindrucksvollem Baß besingen sie die Kämpfe des Krieges, die Entbehrungen, die Verluste. „Keiner ist vergessen, keiner wird vergessen werden.“ Wie die Tänzer sind auch die Sänger und das Orchester ausgebildete Profis. Statt des üblichen Uftata-Tschingdärassabumm spielen sie anspruchsvolle Musik, melancholisch und düster, dann wieder voller Temperament und Lebensfreude.

Eindrucksvoll schildern die Tänzer die Kriegsszenen, und doch ist das Schauspiel ein anderes als die Jahre zuvor. Damals wurden die wichtigsten Schlachten mit viel Getöse nachgestellt, Kanonen aufgefahren, Pappkulissen vom Berliner Reichstag beschossen. Schließlich muß ein Soldat in SS- Uniform die Kapitulation unterschreiben.

Warum sich die Stabsoffiziere der russischen Armee – am 7. Mai jährte sich der Gründungstag erstmals – mehr aufs Symbolische beschränkt haben, mag finanzielle Gründe haben. Statt Panzern ließ man Soldaten um die Aschenbahn kreisen, die Nahkämpfer das Töten von Hand demonstrieren. Kinder sangen ein Lied, Modellflugzeuge zogen Loopings. Die historische Bedeutung dieses Tages wich ein wenig der Folklore. Doch auch die Politik mag Grund zur Verharmlosung sein. Kein Ton war den Verantwortlichen zu entlocken über die tags darauf angekündigten Demonstrationen in Moskau anläßlich des Jahrestages. Kommunisten und Nationalisten hatten sich zur Demonstration gegen Jelzin angesagt, als Fortsetzung der blutigen Auseinandersetzungen vom 1. Mai.

Die meisten Soldaten von Wünsdorf werden nächstes Jahr bereits daheim sein, viele der 25.000 sind schon abgezogen, bis zum 31. August 1994 muß die Kaserne geräumt werden.

So ist anzunehmen, daß die diesjährige Kapitulationsfeier die letzte dieser Art war. Zu wenig Personal wird 1994 noch vorhanden sein, um die aufwendigen Szenen nachzustellen. Dann werden die Soldaten in Rußland feiern, allerdings einen Tag später. Zwar wurde bereits am 7. Mai 1945 um 02.41 Uhr im Alliierten Hauptquartier in Reims die Kapitulation unterzeichnet, wonach alle Kampfhandlungen am 8. Mai 1945 um 23.01 Uhr eingestellt werden sollten. Doch die Kapitulation mußte auf Drängen Stalins am 9. Mai in Berlin-Karlshorst wiederholt werden. Die Kapitulationsurkunde wurde um 00.14 Uhr von Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, von Friedeburg und Stumpff vor dem sowjetischen Oberkommandierenden Marschall Grigori Schukow unterzeichnet.