Feldgottesdienst für die Parteidisziplin

Während die Parteispitze der SPD von Sitzung zu Sitzung eilt, um Wege aus der Führungskrise zu finden, verfolgt die Basis das Schauspiel der „Jungakademiker“ in der Baracke mit Grausen. Da kommt Sehnsucht nach einem wie Helmut Schmidt auf.

Helmut Schmidt kennt die Zeremonie. Wenn die SPD im Revier feiert, dann spielt die Bergmannskapelle auf. „Der Steiger kommt...“ wird intoniert, ein Marsch, mit dem der Ex-Kanzler hier schon oft begrüßt wurde. Das war am Samstag in der zum Industriemuseum mutierten Dortmunder Zeche Zollern nicht anders. Minutenlanger Applaus, das gehört seit jeher zur sozialdemokratischen Begrüßungsshow.

Und doch war es nicht wie immer. Das lag am Publikum. Diejenigen, die da zur Jubiläumsfeier der sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) im Bezirk Westliches Westfalen gekommen waren, hörten nicht nur einfach zu, sie hingen geradezu an des früheren Kanzlers Lippen. Bis zum Überdruß haben sie das jämmerliche Schauspiel in der Führungsetage der Partei verfolgt. Jetzt hoffen sie auf Orientierungshilfen des Mannes, der, träte er noch einmal als Kanzlerkandidat an, sich ihrer Unterstützung sicher sein könnte. Antreten will Schmidt zum Bedauern vieler betrieblicher SPD-Funktionäre zwar nicht mehr. Aber „ich will mich einmischen“, ein „bißchen von der Wahrheit“ erzählen. Denjenigen in der SPD, „die heute auf der Bühne turnen“, empfiehlt er, sich an das „großartige Vorbild“ Herbert Wehner zu erinnern, der „nie etwas werden wollte“, sondern sich allein der Sache verpflichtet gefühlt habe.

Und heute? Schmidt graust, wenn er die Enkelgarde betrachtet. „Uneinigkeit, zu viel Ehrgeiz und zu wenig persönliche Loyalität der Führenden“ prägten das Bild und seien mitverantwortlich für den Absturz der SPD. Da braust erleichterter Jubel auf, denn die Botschaft, durch Disziplin und Geschlossenheit werde die SPD die Misere schon meistern, glauben die anwesenden AfA-Genossen nur allzugern. Hier ist die Partei noch in Ordnung, hier stören die von Schmidt einmal mehr gegeißelten „Jungakademiker“ nicht. Angesichts der „depressiven Stimmungslage, die uns von den Führungsgenossen angesungen wird“, so bringt Dortmunds Oberbürgermeister Günter Samtlebe seine Gemütslage auf den Punkt, seien AfA-Veranstaltungen so etwas wie „ein Feldgottesdienst“ für ihn. „Arbeitsplätze, Wohnungen und soziale Sicherheit, wozu der Umweltschutz gehört“, darauf müsse die SPD sich konzentrieren. „Alles andere ist Quatsch.“

Nun, selbst im westlichen Westfalen, dem mit 120.000 Mitgliedern größten SPD-Bezirk der Republik, sind die Zeiten vorbei, in denen man mit solchen Parolen Ruhe garantieren konnte. Der Bezirk sorgte erst jüngst mit dafür, daß die von Engholm initiierte Petersberger Wende bei der Frage von Kampfeinsätzen der Bundeswehr scheiterte. Und das, obwohl der Bezirksvorsitzende und Düsseldorfer Arbeitsminister Franz Müntefering zur Wendegarde zählte. Gänzlich ausgeschlossen ist es deshalb nicht, daß der mächtige Bezirk auch bei der Frage der Engholmnachfolge seinem Vormann Müntefering nicht folgt. Der hatte in der letzten Woche zunächst so eine Art Urwahl für die Kandidatenkür vorgeschlagen. Am Samstag präzisierte Müntefering seine Vorstellungen so: Es gehe darum, „daß die Gliederungen und die aktiven Funktionäre der Partei konstruktiv und verbindlich an den Entscheidungen beteiligt werden“.

Zwei Überlegungen standen hinter diesem Vorstoß, der gewiß mit dem kommissarischen Vorsitzenden Johannes Rau abgestimmt war. Man wollte den ungeliebten Schröder, dem man eine Mehrheit beim Parteivolk wegen seiner Illoyalitäten Engholm gegenüber nicht zutraut, ausbremsen und gleichzeitig zukünftige Querschüsse aus Hannover verhindern; gegen einen von den Mitgliedern gewählten Vorsitzenden, so das Kalkül, würden es die Unterlegenen nicht wagen, zu opponieren.

Dabei favorisiert die NRW-Parteispitze eindeutig Rudolf Scharping. Man hofft, durch dessen Wahl zum Vorsitzenden auch Schröder als Kanzlerkandidaten verhindern zu können. Ob die NRW-Partei dabei folgt, steht dahin. So eindeutig wie es die Parteiführung um „Moderator“ Johannes Rau gerne hätte, sind die Sympathien im Lande gewiß nicht verteilt. Während die NRW-Jusos in ihrer großen Mehrheit am liebsten die hessische Favoritin Wieczorek- Zeul auf das Schild höben, nennen die Sozis in den Ortsvereinen alle möglichen Namen. In bezug auf Schröder dürfte Wilhelm Giege, der sich während einer Ortsvereinssitzung in Dortmund-Eving am vergangenen Donnerstag äußerte, mit seiner Einschätzung wohl vielen Reviersozis aus dem Herzen gesprochen haben: „Mit Solidarität hat das zwar nichts zu tun, was Schröder gemacht hat, aber fähig wäre er als Kanzlerkandidat.“ Daß die auf der Zeche Zollern so ersehnte Disziplin und Geschlossenheit gegen Kohl nicht reichen, machte Genosse Rainer in Eving klar: „Was uns fehlt, ist ein wirkliches Gegenbild. Wohin wollen wir denn eigentlich?“ Walter Jakobs, Dortmund