„Gegen jüdisches Kapital und Schweizer Bankiers“

■ In Moskau demonstrierten Zehntausende am „Tag des Sieges“ über den Faschismus gegen Boris Jelzin / Keine Auseinandersetzungen mit der Polizei

Moskau (taz) – „Tension is rising“ – die Spannung steigt an, meldete ein westlicher Nachrichtensender am frühen Morgen des „Tag des Sieges“ über den Hitlerfaschismus, Rußlands traditionsreichstem Feiertag. An der Kremlbrücke bat ein Zweisternegeneral, ihn mal eben mit dem mitgeführten Teil seiner Familie zu fotografieren. Blauer Himmel und goldfunkelnde Kremlsilhouette im Hintergrund. Am Grab des unbekannten Soldaten legte Rußlands zerstrittene politische Klasse gerade ihre Kränze nieder. Jeder für sich. Erst Referendumssieger Jelzin, dann die Troika der eingeschnappten Verlierer: Chasbulatow, Ruzkoi und Verfassungsrichter Sorkin. Ein Steinwurf entfernt, im Halbschatten der Kremlmauer des Alexandergartens, stieg die Spannung dagegen tatsächlich an, hier knisterte es wirklich: Liebespärchen turtelten in Mailaune.

Schlechte Laune hatten die Mitarbeiter eines deutschen Nachrichtensenders in einer Seitenstraße der Moskauer Twerskaja. Wieder mal stand die Satellitenanlage umsonst rum. Vorerst fand sich kein Idiot, der die brenzlige Lage hätte medienwirksam simulieren wollen. Einige zehntausend Veteranen zogen schließlich den Boulevard hinunter. Rußlands reaktionäre Splittergruppen hatten sich auffällig unter sie gemischt. Stalin grüßte von Plakaten, Jelzin lächelte hämisch von einer Collage, man hatte ihn zum Vollstrecker des „jüdisch-freimaurerischen Zionismus“ gemacht. Ein anderes Transparent drohte ihm ausgerechnet mit einem neuen „Nürnberger Prozeß“. An anderer Stelle wurden die Zusammenhänge zwischen jüdischem Kapital, Schweizer Bankiers und übersinnlichen Kräften als das Grundübel der Welt erläutert.

Die Veteranen sangen, und Psychopathen waren in ihrem Element. Den „ewigen Sieg“ beschworen jene, die jäh aus der sozialistischen Hängematte gefallen waren. Alte Frauen am Straßenrand beschimpften sich, die einen pro, die anderen kontra. Aus der Kolonne ertönte der mahnende Ruf: „Genosse, reih dich ein, dein Platz ist hier.“ Die ordenbehangene Brust antwortete ruhig: „Ich bin seit langem ausgestiegen.“

Alles verlief friedlich. Moskaus Polizeiaufgebot war dezent in Seitenstraßen plaziert. Die Milizionäre an den Straßensperren trugen keine Waffen, nicht einmal Schilde zu ihrem Schutz. Das Versammlungsverbot für den Roten Platz wurde vorübergehend außer Kraft gesetzt. Wer wollte, konnte noch bei Lenin reinschauen.

Vom Manegeplatz brachte ein kostenloser Bustransfer die Veteranen vorbei am Triumphbogen des Sieges über Napoleon zur provisorisch fertiggestellten Siegesstätte im Zweiten Weltkrieg. Jelzin weihte den seit Jahren brachliegenden Rohbau gestern offiziell ein. Ein Geschenk an die Veteranen, für die der Zusammenbruch der UdSSR mehr war als nur ein politisches Ereignis. Klaus-Helge Donath