Ein Marinestützpunkt als Konzentrationslager

In der russischen Armee gibt es mehr als nur militärischen Drill. Hier wird gefoltert, vergewaltigt und getötet: 15.000 Männer sollen in „Friedens“zeiten umgekommen sein. Das berichten die „Soldatenmütter Rußlands“.  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Manchmal stehen sie vor dem „Weißen Haus“, dem Sitz des russischen Parlaments, und halten riesige Porträts sehr junger Männer. Und immer wieder werden sie gefragt: „Ach, das ist wohl wegen Afghanistan?“ Aber das „Komitee der Soldatenmütter Rußlands“ beklagt die Opfer eines Krieges, der noch nicht beendet ist: In den letzten vier Jahren sind etwa 15.000 junge Männer zwischen 18 und 20 Jahren in Friedenszeiten in der ehemaligen sowjetischen und heute russischen Armee umgekommen – ebenso viele wie in den zehn Jahren des Afghanistankrieges. Sie sind Opfer eines sadistischen Systems von Drill und Folter, das den Namen „Dedowtschina“ trägt. „Ded“, „Großvater“ – so werden die vor der Demobilisierung stehenden Wehrdienstleistenden im russischen Armeejargon genannt.

„Was wird das für eine Generation, die das Land aus dem Sumpf herausführen soll? Nach den Jahren in der Armee kommen unsere Jungs als bösartige Krüppel zurück, und mir scheint, als ob irgendeine Absicht dahintersteckt.“ Die zierliche Olga sitzt an diesem Frühsommertag in einem winzigen Zimmerchen in der Moskauer Altstadt, unter dem Dach des Helsinki-Komitees, und macht „Mütterberatung“. Weinende Mütter berichten von Besuchen bei Einheiten, wo sie ihre Söhne krank und verwundet fanden.

Die Dachorganisation der „Soldatenmütter“ wurde 1989/1990 gegründet und zählt heute 100 Mitglieder – darunter auch Väter. Etwa 100 Eltern wenden sich im Durchschnitt monatlich an diese Stelle, um ihre Kinder noch lebend aus dem Militär-Gulag herauszubekommen. Erst im Februar flog die Vorsitzende des Komitees, Maria Iwanowna Kirbassowa, in einer spektakulären Aktion mit 48 betroffenen Müttern, mit ÄrztInnen und Deputierten zur Garnison auf der „Ostrow Russki“ („Russische Insel“) bei Wladiwostok im Fernen Osten und entlarvte den dortigen Marinestützpunkt als Konzentrationslager. Über 900 Rekruten von der Insel, darunter Olgas Sohn, konnten anschließend nach Hause zurückkehren. Soldaten mit 40 Kilogramm Gewicht waren auf der Ostrow Russki keine Seltenheit. Die Wasser- und Abwasserleitungen der Garnison waren untereinander verbunden. Einen jungen Mann ließen seine Vorgesetzten mit Spaten erschlagen, weil er mit Lungenentzündung und 40 Grad Fieber bei den Kniebeugen nicht mehr mitkam.

„Unsere Hauptinformanten waren zwei Jungs, die von dieser Insel geflohen sind, indem sie sich an Balken geklammert haben und durch das eiskalte Meer geschwommen sind“, resümiert Olga. „Angeblich werden sie dort „unterwiesen“. Man kommandiert sie z.B. zum Kartoffelschälen und gibt ihnen dafür einen Löffel! Und dann heißt es: Ach, das ist dir wohl zu stumpf!? Und dann bekommen die Kinder eine blanke Rasierklinge in die Hand gedrückt. Unsere Jungs schnappen da einfach über, und wenn der nächste Jahrgang kommt, fangen sie selbst an, die Jüngeren zu tyrannisieren“.

Der Soziologe Juri Lewada bezeichnet in seinem Buch „Der Sowjetmensch“ die tiefe Erniedrigung in der Armee, die das Opfer dazu zwingt, seinerseits Schwächere zu demütigen, als prägendes Erlebnis des russischen Mannes. Nach dem Zerfall der UdSSR haben sich diese Mißstände kraß verschlimmert, da die zentrale Kontrolle nahezu entfällt. „Das schrecklichste sind die Vergewaltigungen“, berichtet Tanja, die sich mit Olga abwechselt. „Unlängst kam ein Junge zu uns, der von Kameraden vergewaltigt worden war. Wir hatten ihm einen Platz in der psychiatrischen Klinik besorgt, aber sogar dort hat er es geschafft, sich zu erhängen. Am 3. März kam seine Mutter, um sich nach ihm zu erkundigen ...“

Die Drohung mit sexuellen Foltern gehört immer zur „Dedowtschina“. Auf der Ostrow Russki gab ein Matrose zu Protokoll, daß man ihn mit Diarrhöe nicht in die Toilette ließ, ihn anschließend zwang, seine Unterhose im Mund zu „waschen“, und ihn dann in den Heizungskeller führte, wo er vergewaltigt wurde, während man ihm die Fersen gegen eine glühende Schaufel drückte. Nach Fluchtversuchen wurden die Rekruten in der Regel vor versammelter Einheit so lange geschlagen, bis sie von selbst einer Vergewaltigung zustimmten. Viele Soldaten verlassen die Armee mit zertrümmerten Nieren.

„Mein Sohn drängte geradezu in die Armee“, erzählt Tanja. „Er schrieb mir schon bald: ,Was bin ich doch für ein Idiot gewesen! Ich beneide jetzt alle Invaliden.‘“ Tanja hat mit Hilfe von Maria Iwanowna Kirbassowa die Versetzung ihres Sohnes Sascha in ihre Nähe, nach Moskau, bewirkt, wo er jetzt in einer besser organisierten Einheit dient. Es gibt einige Offiziere, die die russische Armee lieber nicht als Verkrüppelungsinstrument sähen und den Soldatenmüttern helfen. Als Tanja ihren Sohn Sascha das erste Mal in Sankt Petersburg besuchte, wo er diente, bat er sie im Hotelzimmer auf Knien, ihn mit nach Hause zu nehmen. Daß kaum eine Mutter diese naheliegende Möglichkeit ins Auge zu fassen wagt, liegt vor allem an den harten Strafen, die noch immer auf Desertion stehen. Acht Jahre im gefürchteten „Disbat“, im „Disziplinarbataillon“, sind nach einem Fluchtversuch keine Seltenheit.

Mit Tanja unter einem Dach arbeitet die Stiftung für „Rechte der Mütter“, deren Söhne in Friedenszeiten in der Armee starben. Neben bestimmten Pensionsverbesserungen geht es ihnen dabei vor allem um die nachträgliche Aufklärung vertuschter Todesursachen. Die Stiftung hat ein Buch mit dem Titel „Hundert von Fünfzehntausend“ herausgegeben, in dem neben den Fotos junger Männer ihre „Fälle“ dokumentiert werden. „Wir spielen Soldätchen, als gebe es sonst in der Welt nichts zu tun“, hatte da Wladislaw Krasnoborodko in einem seiner Gedichte geschrieben. Er lebte von 1970 bis 1989. Angebliche Ursache seines Todes: Gehirnhautentzündung. Um die Diagnose wahrscheinlicher zu machen, schrieb der Armeearzt: „Wurde bereits bei der Musterung festgestellt“.

Die Soldatenmütter fordern neben zahlreichen Reformen auch die Möglichkeit zum alternativen Zivildienst. Tanja ist erst 41, eine burschikose Frau in Jeans. „Es ist nicht leicht, hier zu sitzen und von so viel Grauen zu hören, sagt sie: „Leider haben wir überhaupt keinen Einfluß auf unsere Gesellschaft, die Wand der Militärs ist undurchdringlich. Manchmal fragt mich der Freund meines Sohnes: Tanja, wozu hast du das nötig, dich um andere zu quälen, wo dein Sascha jetzt in Sicherheit ist? – Dann antworte ich ihm: Na, wer denn sonst, wenn nicht ich?“