Eine Legende, eine Maske

■ Ein neues Buch über Chet Baker anläßlich seines fünften Todestages

Kann man seine Musik hören, ohne an sein Leben zu denken? Chet Bakers Biografie, das ist der Stoff, aus dem Jazzsagen gemacht werden: 1953 über Nacht berühmt als Mitglied des Gerry Mulligan Quartet, Gewinner der großen Jazzpolls, mit seinem verträumten Gesicht unterm blonden Haarschopf Schwarm der Collegegirls, Idol der Collegeboys. Er spielt die Trompete mit knabenhafter Unschuld und Frühreife. Ruhig, in mittlerer Lage, ohne Ausbrüche und Attacken. Innig, beseelt? Das nicht, aber weich und einschmeichelnd. Ein blutarmer Miles Davis, wie manche spotten.

Dem kometenhaften Aufstieg folgt nicht die Star-, sondern die Drogenkarriere: Heroin, Pillen, Krankenhäuser, Entziehungskuren, Knäste, Jagd nach dem Stoff in den USA und Europa, der Schuß vor und nach der Session, dem Konzert. Drei Jahre lang war er der zauberhafte Junge mit dem Horn (wie eine Generation vor ihm der sanfte Neuerer Bix Beiderbecke, der zeittypisch an der Flasche, nicht an der Nadel hing, und 28jährig im Delirium tremens starb), über drei Jahrzehnte dauerte dann der Überlebenskampf des gefallenen Engels. Noch sein Sterben taugt zur Legendenbildung: Am 13. Mai 1988 stürzte er aus einem Amsterdamer Hotelzimmer zu Tode.

Chet Baker konnte fies sein, ließ Konzerte platzen, stieß Kollegen vor den Kopf. Aber da blieb immer sein unbändiger Spielwille, seine Musik, deren warme Melancholie selbst an miesen Abenden aufschimmerte. Er blies jetzt muskulöser, die melodiösen Bögen ab und zu wie mit einer harten Feile angerauht, schartig. Chet Baker bettelte nicht um Mitleid. Er bewahrte eine menschliche Substanz, die ihm die Achtung und Liebe der meisten Mitmusiker sicherte und es ihm irgendwann in seinen letzten fünfzehn Jahren ermöglicht haben muß, zu einer Balance, ja einer Harmonie zwischen seinem lyrischen Spiel und seinem geschundenen Leben zu finden. Hatte Chet Baker Frieden mit sich selbst geschlossen?

Der Todestag dieses mal rücksichtslosen, mal scheu werbenden Mannes jährt sich übermorgen zum fünften Mal. Der Nieswand- Verlag widmet ihm aus diesem Anlaß ein Buch, das in Kürze fertiggestellt sein wird, gestaltet mit der bei Nieswand üblichen Sorgfalt und Begeisterung: Fotos, Musikerzitate, eine Diskografie, eine CD mit seltenen oder unveröffentlichten Aufnahmen. Frappierend zumindest in den bisher fertiggestellten Buchteilen: Auf keinem Bild, sei es Momentaufnahme oder Pose, lacht oder lächelt Chet Baker. Sein verschlossenes Gesicht schaut über die Jahre, die Situationen, die Fotografen hinweg. Kein Mienenspiel, keine Gemütsbewegung zeichnet sich ab. Zeigen die zerfurchten Züge Leere, Gehetztsein, Konzentration? Gelassenheit? Kaum. Sein Gesicht – eine Maske.

Wer war Chet Baker? Lassen wir uns von einem der Musikerzeugen aus dem Buch verwirren. Das sagt Michel Graillier, langjähriger Pianist und Freund Chet Bakers: „(Man) hat viel über die Zerbrechlichkeit Chet Bakers geredet. Pure Spekulation. Im Gegenteil war er eine Naturgewalt. Ich habe ihn mit nacktem Oberkörper gesehen: er hatte die Muskulatur eines Athleten. Ebenso hatte sein Trompetenspiel nichts Schwächliches an sich ... Er war ein Hitzkopf ... auf jeden Fall war er alles andere als ein Verlierer oder ein geschlagener Mensch. Aber wenn es um Jazz geht, ziehen die Leute morbide Deutungsmuster vor.“ Carlo Ingelfinger

Ingo Wulff (Herausgeber): „Chet Baker in Europe 1975 – 1988“. Nieswand-Verlag 1993. Zirka 140 sw-Fotografien von zirka 49 Fotografen mit einer Diskografie von Burkhard Schiller und einer CD, 180 Seiten, 128 DM.