Hohle Helden, leere Liebhaber

Shakespeares „Troilus und Cressida“ neu übersetzt und in Bochum inszeniert  ■ Von Gerhard Preußer

Ein Schwert steckt im Boden, mitten auf der Bühne: Krieg also ist das Thema. Ein Mann in roter Uniform mit schmutzig goldenem Helm kommt und berichtet im pathetischen Ton des Heldenepikers – laut, aber bei geschlossenem Visier kaum verständlich – vom Archetyp des Krieges: dem trojanischen. Dann lüftet er die Klappe, heraus schaut ein grinsender Jüngling, der uns im neckischen Plauderton erzählt, er sei eigentlich nur gekommen, uns zu sagen, daß das Stück in der Mitte beginne, sieben Jahre nach Kriegsbeginn. Desillusionierung also das Stilprinzip.

Ein anderer Jüngling betritt in der gleichen Uniform die Bühne und säuselt, er sei sich zu gut, da mitzukämpfen. Er schmachtet nach seiner Angebeteten. Liebe also ist das andere Thema. Krieg und Liebe – zwei Illusionsquellen. Die Illusion, Liebe mache glücklich, ist unausrottbar, und die, mit Kriegen löse man Probleme, erfreut sich wieder zunehmender Beliebtheit.

B. K. Tragelehn, der Brecht- Schüler der letzten Stunde, ist ein erfahrener Desillusionist. In Bochum hat er sich Shakespeares zersetzendstes, höhnischstes Stück vorgenommen und läßt es in einer eigenen Übersetzung spielen. (Leider konnte er wegen einer Erkrankung die Inszenierung nicht zu Ende führen, so daß Intendant Frank-Patrick Steckel, ein bewährter Nothelfer in solchen Mißlichkeiten, einspringen mußte.)

Jahrhundertelang war „Troilus und Cressida“ ein ärgerliches, absichtlich vergessenes Stück, vielleicht nicht einmal zu Shakespeares Lebzeiten aufgeführt und später ganz von der Bühne verbannt. Vergangene Jahrhunderte waren so glücklich, es nicht zu verstehen. Erst nach dem Ersten Weltkrieg fand es den Weg auf die Bühne. Seine Helden sind erbärmlich, tückisch, falsch und infernalisch gemein, seine Clowns sind zotig, unflätig, gallenbitter.

Die Liebe also: wenn Cressida (Judith Rosmair) ihren Troilus zum erstenmal sieht, steht sie hoch oben über der Szenerie, einem schmutzig-roten, in den Zuschauerraum vorspringenden ovalen Boden und einer riesigen grau- grünlichen Zeltwand, die die Bühne halb umschließt (Bühne und Kostüme: Kazuko Watanabe). Von ihrem Beobachterposten sieht sie die trojanischen Helden aus der Schlacht kommen. Die Garde der Heroen defiliert: Hektor stampft, Paris pfeift, Helenus kriecht. Und als Cressida fragt: „Was ist denn das für ein Jammerlappen?“, meint sie Troilus (Michael Weber), dem sie später die Treue schwört und bricht.

Cressidas Interesse für Männer ist deutlich, ihre Entscheidung für den einen ist ihr wahrscheinlich selbst nicht klar. Sie ist jung und schnippisch, forsch und dennoch willenlos. Bei der ersten und einzigen, von Panadarus arrangierten Begegnung des Paares ist Troilus ein schüchterner, verklemmter Knabe mit Blumen in der Hand. Als Pandarus ihm Cressida zuschiebt, versucht er, sie sich mit seinem albernen Vergißmeinnichtsträußchen auf Distanz zu halten. Cressida dagegen glaubt zu wissen, was sie will. Wenn sie sagt: „Ich liebe Euch“, zögert sie zwar nach dem „Ich“, doch dann unterstreicht sie die Wahrheit ihrer Behauptung mit einer hochfahrenden Handbewegung, als sage sie das Selbstverständlichste von der Welt.

Das ist eine Frau, auf die kann man nicht bauen. Wenn sie dann im Austausch gegen den gefangenen Trojaner an die Griechen ausgeliefert wird, liegt sie zwar zunächst eingerollt als schmollendes Kuschelkätzchen auf dem Sessel, doch dann läßt sie alles mit sich machen und ist auch nicht aus der Fassung zu bringen, als sie von der versammelten griechischen Generalität zur Begrüßung gierig abgeknutscht wird. Diese Cressida ist nur ein kesses Kind, dabei könnte sie auch eine moderne Frau sein.

Und dann der Krieg: vier Männer mit martialischen Helmen kommen auf die Bühne geschlurft und setzen sich auf ihre mitgebrachten Klappstühlchen. Einer wackelt senil mit dem Kopf, ein anderer wippt ungeduldig mit dem Fuß, der dritte stochert schläfrig mit dem Schwert im Boden herum. Ihr Anführer putzt mißmutig seine Klinge blank. Das sind die Gegner der Trojaner, die Heerführer der Griechen. Ajax stolpert als dümmliches Kraftvieh den anderen hinterher, Achill stolziert als Lebemann mit lässig umgehängtem Mantel überm nackten Oberkörper herein. Die Lust an der Heldendemontage macht aus ihnen simple Karikaturen.

Auch die parallele Beratungsszene der Trojaner zeigt den Hang zur Vereinfachung: Priamos ist ein alter Mann, der nichts mehr von all dem wissen will, Hektor ein opportunistischer Biedermann und Kassandra die irre Tante vom Dachboden. Dieser Krieg wird von dummdreisten Hohlköpfen und von einigen gerissenen Gaunern geführt. Der Rest von Sympathie, den man für die Trojaner noch hatte, er geht verloren, wenn sie sich entscheiden, um der Ehre und der Staatsräson willen den als sinnlos erkannten Krieg fortzusetzen. Und Hektor, der letzte ritterliche Kämpfer, stirbt zu Recht, nachdem er einer prächtigen Rüstung hinterhergelaufen war, um ihren Besitzer zu töten.

Der Bochumer Inszenierung gelingt kaum mehr als eine seichte Heldensatire. „Troilus und Cressida“ ist aber keine Offenbach- Operette, die Debatten der Feldherrn sind nicht trivial. Ihnen geht es nicht nur um den Vorrang der Staatsräson vor dem Naturrecht, sondern auch um die Frage, woher Werte ihren Anspruch auf Verbindlichkeit beziehen. Ulysses, der gewitzte Zyniker, erklärt Achill, nur von der Meinung anderer hänge der Wert eines Menschen ab. Und diese Auffassung setzt sich schließlich durch, bei Griechen und Trojanern. Im Entsetzen über die Folgen dieses Relativismus besteht die Modernität des Stückes. Doch in der Bochumer Inszenierung hört man auf dieser Ebene des Textes gar nicht hin.

Die Aufführung ist zu heiter-distanziert, als daß sie die Bitterkeit der Scherze uns spüren lassen könnte. Die Inszenierung erliegt der Gefahr des schnellen Einverständnisses: Krieg ist schlimm, die Liebe unsicher, die Welt ist schlecht. Die überdeutlich herausgestellten Merkmale jeder Figur und jeder Situation erleichtern das Lachen und das Erkennen. Aber es ist kein Lachen mehr, über etwas, das nicht amüsiert. Dem Zynismus fehlt das Erschrecken.

„Troilus und Cressida“ ist so faszinierend schwierig, weil es uns immer neue Orientierungen abverlangt. Nicht nur der Wechsel zwischen trojanischer und griechischer Perspektive strapaziert die Empathie, auch der zwischen männlicher und weiblicher, ernster und komischer. Cressidas zweite Liebesszene, die mit dem Griechen Diomed, wird eigentlich aus dem Versteck heraus dreifach kommentiert: von dem enttäuschten Rivalen Troilus und dessen beschwichtigendem Berater Ulysses und aus dem hämisch schiefen Blickwinkel des teuflischen Thersites. In der Bochumer Inszenierung jedoch ist der Text aller drei Beobachter gestrichen. Der Inszenierung gelingt es leider, das so verirrend perspektivenreiche Stück eindeutig zu machen.

William Shakespeare: „Troilus und Cressida“. Schauspielhaus Bochum. Regie: B.K. Tragelehn/F.-P. Steckel. Bühne und Kostüme: Kazuko Watanabe. Mit: Judith Rosmair, Michael Weber, Wolf Redl. Weitere Vorstellungen: 15., 19. und 29. Mai