Lebensechte Individuen

■ „Le Nozze Di Figaro“ in Amsterdam – mit Harnoncourt

Neu ist Nikolaus Harnoncourts Ansatz längst nicht mehr – aber doch immer wieder ein provozierender Mosaikstein in einem (von ihm) entschlackten Mozart-Bild: kugelige Dreiklang-Wonnen werden durch harsche Detailverliebtheit ersetzt.

So war denn auch sein „Le Nozze Di Figaro“ nicht allein dramaturgischer Schlußpunkt im Amsterdamer Mozart/DaPonte-Zyklus, sondern auch Ansatz für eine Tendenz, der Klanglichkeit individueller Tragik den Vorrang zu geben. Dem herläufigen Intrigenspiel mit Revolutions-Tendenz — gemäß der Vorlage von Beaumarchais — schob Harnoncourt den Riegel vor. Mit auftrumpfenden Akzentuierungen gelangen ihm Gesten, die dem buffoesken Fluß entgegenstanden, die Gesamtheit des Mozartschen Kosmos umriß er durch die klangliche Exponierung einzelner Handlungspersonen: Wenn im 2. Akt Cherubino (mit warmem Timbre und ohne Hast: Iris Vermillion) eher verschüchtert-introvertiert seine Liebeserklärung formuliert, spielt das glänzend aufgelegte Königliche Concertgebouw Orchester leichtflüssig Pizzicato-Ketten, um doch sogleich scharfkantig jeder Illusion gegenzusteuern. Im Finale Nr. 15 zwischen dem gräfischen Casanova (schlitzohrig-kraftvoll: Olaf Bär) und seiner gehörnten Gattin webt Harnoncourt mit Arpeggien kurze Peitschenhiebe in die rossinihafte Kantilene ein — und macht die zopfig-gepuderte Settecento- Romantik irdisch.

Mozarts Musik wird durch solche kleinen Signale neu belebt, es kommt immer anders als erwartet. Doch Harnoncourt ist trotzem kein mikroskopischer Dogmatiker. Sein widerborstiges Mozart- Konzept präsentiert Subjektivität ebenso wie breitflächig colorierte Holzschnitt-Psychogramme. So wurde die große C-Dur-Arie „Dove sono...“ durch Charlotte Margiano als Gräfin zu einem gehauchten Lamento, das das Orchester mit großem Atem begleitete – Harnoncourts Rigorosität ließ Platz für lange Bögen.

Regisseur Jürgen Flimm siedelte mit Bühnenbildnerin Marianne Glittenberg das Spielgeschehen zwischen dem Rokoko Carlo Goldonis und der Ausflugstristesse eines Maxim Gorki an. Die spärlich eingerichteten Gemächer flankiert ein herbstlicher Schloßpark, nur zwei Marmorsäulen deuteten die Liebesfestung des Grafen an.

Flimm amüsierte nicht nur mit der Konterkarierung höfischer Manneskraft und des „Ius primae noctis“, im Gegensatz zu Harnoncourts früherem Mozart-Regisseur Jean-Pierre Ponnelle ebnete er die Standesunterschiede. Isabel Rey als Dienerin Susanna degradierte den Grafen kokett und selbstbewußt zur Persona non grata und war der Gräfin eine überlegene Komplizin. Im Zentrum der Eifersüchteleien und erotischen Kabbalen ihr Verlobter Figaro (kernig-vitaler Tenor: Alastair Miles), dem Nebenbuhler mit Witz und List trotzend.

„Im Figaro werden Menschenleben geschildert, lebensechte Individuen“ so Nikolaus Harnoncourt. In Amsterdam gelang dies ohne rauschhafte Champagner- Orgien und Kostümierungsumzüge, statt dessen nüchtern erfrischend. Dem klaren Blick kam das in jeder Hinsicht zugute. Guido Fischer

Wolfgang Amadeus Mozart: „Le Nozze Di Figaro“, Commedia Per Musica in vier Akten. Libretto: Lorenzo da Ponte; Inszenierung: Jürgen Flimm; Musikalische Leitung: Nikolaus Harnoncourt, Königliches Concertgebouw Orchester; Weitere Vorstellungen geplant: 12., 14., 17., 19., 22., 24., 27., 29.5.