Der Fall Andreotti als „Casus iuridicus“

■ Die Anklagepunkte / Mit den Beweisen tun sich die Ermittler allerdings schwer

Rom (taz) – Gegen Andreotti erheben die italienischen Staatsanwaltschaften – bisher – zwei strafrechtlich relevante Anschuldigungen. Die weniger gravierende kommt aus Mailand und unterstellt einen Verstoß gegen das Parteienfinanzierungsgesetz: Andreotti soll der Sozialdemokratischen Partei eine Schmiergeldzahlung von umgerechnet etwa einer halben Million DM zugeschanzt haben. Daß Andreotti, selbst Christdemokrat, im einzigen ihm angelasteten Fall dieser Art ausgerechnet eine andere Partei bedacht hat, begründen die Ankläger damit, daß die Sozialdemokraten damals in seiner Regierungskoalition saßen und ziemlich klamm waren.

Die viel schwerwiegendere Anschuldigung stammt aus Palermo und lastet ihm „Beteiligung an mafioser Bandenbildung“ an. Das ist nach dem 1982 verabschiedeten und diverse Male modifizierten Anti-Mafia-Gesetz mit bis zu acht Jahren Gefängnis bestrafbar. Führungsleute der Bande bekommen bis zu zwölf Jahren.

Im Zuge der bisherigen Ermittlungen kommen allerdings noch mögliche weitere Anklage-Hypothesen dazu: so soll sich Andreotti unter konspirativen Umständen mit Mafiabossen und sogar mit dem steckbrieflich gesuchten Oberboß Toto Riina getroffen haben, was den Straftatbestand der „Begünstigung von Straftaten“ sowie Strafvereitelung darstellen würde. Um dasselbe Delikt ginge es, wenn sich beweisen ließe, was einige Mafia-Aussteiger behaupten: daß Andreotti Druck auf den für die letztinstanzlichen Strafverfahren verantwortlichen Kassationshof in Rom ausgeübt hat, um Urteile im Sinne der Mafia zu beeinflussen. Mit gerichtsverwertbaren Beweisen tun sich die Ermittler jedoch sehr schwer. So haben sich die derzeit täglich neu hinzukommenden Mafia-Kronzeugen bereits derart hoffnungslos in Widersprüche verheddert, daß die Ermittler wieder auf die schon 1983–88 in den Großprozessen wie Zitronen ausgepreßten ersten pentiti, Buscetta, Contorno und Manoia zurückgreifen müssen, um wenigstens ein paar klare Aussagen zu bekommen. Entsprechend zeigen die Staatsanwälte durch ständiges Nachschieben von neuen Beweisen (wo doch die Sache bis zur Freigabe der Immunität erst einmal hätte ruhen müssen) beträchtliche Nervosität.

Das Hauptproblem besteht für sie darin, daß es üblicherweise für „mafiose Vereinigung“ keine Gründungsurkunde oder Mitgliederlisten gibt. Ob Andreotti so jemals selbst formell zum uomo d'onore, einem regluären Gruppenmitglied wurde, ist unklar. Einige Aussteiger halten ihn für einen punciuttu, einen „Angestochenen“ (nach dem Initiationsritus des Zeigefingereinritzens vor dem Blutschwur), andere meinen, er sei gerade als Nichtmafioso so effizient gewesen. Der bisher glaubwürdigste aller Mafia-Aussteiger, Antonino Calderone, dessen Bruder lange Oberhaupt aller sizilianischen Mafiosi war, behauptet zudem, die Mafia ließe sich nie wirklich mit Politikern ein, sie beherrsche diese, sei aber nie bereit, von diesen eine Order anzunehmen.

Tatsächlich bezieht sich die Zeugenaussage eines Aussteigers, auf die sich die Anklage stützt, just auf eine derartige Episode: danach sei Andreotti 1980 nach dem Mord am christdemokratischen, nach mafioser Jugend in die Gegenrichtung umschwenkenden Regionalpräsidenten Piersanti Mattarella nach Palermo gekommen, um sich über den für die Regierung sehr peinlichen Anschlag zu beschweren. Da soll ihn der Boss Stefano Bontade angeschrien haben: „Hier auf Sizilien kommandieren wir, und wenn dir das nicht paßt, nehmen wir den Christdemokraten alle Stimmen weg.“

Die Anklage steckt hier in einer Zwickmühle: zwar kann sie möglicherweise Andreotti Treffen und vielleicht auch Mauscheleien mit Mafiosi durch Zeugenaussagen und einige Fotos nachweisen. Doch bereits im nächsten Schritt wird sie sich zwangsläufig zwischen widersprüchlichen Fährten verheddern: macht sie, wie es die Presse und ein Großteil des Volkes derzeit wohl wünschen, Andreotti als Oberteufel verantwortlich für unzählige mafiose Delikte, muß sie ihm Kommandogewalt nachweisen. Das aber ist genau das, was sich aus den Aussagen der Mafiosi nicht ergibt. Stellt die Anklage ihn umgekehrt als gehorsamen Befehlsempfänger dar, wird er sich ohne große Mühe als von der Mafia erpreßt präsentieren können.

Die Juristen greifen in diesem Fall meist auf die Hilfskonstruktion des „Hinnehmens“ oder des „unausgesprochenen Einverständnisses“ zurück, um doch noch eine Verurteilung zu erreichen: danach muß das Bandenmitglied weder Straftaten anordnen noch selbst welche begehen. Es reicht schon, daß es nicht aussteigt und die ihm bekannt werdenden Straftaten seiner Kumpane nicht anzeigt.

Das wäre dann die Farce in Höchstkultur: der lange Zeit mächtigste, durchtriebenste Politiker Italiens, den alle fürchteten wie den Beelzebub, er soll vor der Mafia gekuscht haben und würde dann am Ende nur wegen Nichtstuns verurteilt. Werner Raith