Verliert der alte Fuchs doch noch den Pelz?

Im Verfahren gegen Giulio Andreotti, Italiens schillerndsten Politiker, agiert dieser wendig wie eh und je / Die Strategie: Ein Prozeß gegen ihn sei zugleich einer gegen die Mehrheit des Volkes, das ihn schließlich gewählt habe  ■ Aus Rom Werner Raith

Für seine Feinde hat der Altmeister der Intrige nur eines übrig: Verachtung, so abgrundtief, daß man sie fast physisch spürt: „Ich wundere mich nicht darüber, daß sie mich anklagen. Ich wundere mich über die Dummheit dieser Anklagen“, zischt es aus Giulio Andreottis wie üblich zusammengekniffenen Lippen hervor, als der siebenmalige Ministerpräsident und dreiunddreißigmalige Minister eine Sitzung der Kommission verläßt, die über die Aufhebung seiner Immunität befinden soll.

Daß sich der 74jährige, der seit Kriegsende ununterbrochen ganz vorne im Politgeschäft war, irgendwann geschlagen geben könnte, glaubt sowieso niemand, und wahrscheinlich ist schon heute jeder Schritt, jede Geste, jede Verhaltensänderung die übliche Vorbereitung für ein neues Gefecht. Daß Andreotti nicht mehr ausschließt, es könnte sein letztes sein, glauben die Auguren inzwischen allerdings doch ausgemacht zu haben. Vielleicht ist die Resignation, mit der er nun selbst die Aufhebung seiner Immunität gefordert hat, nicht nur gespielt.

Außer Zweifel steht aber, daß er diese Resignation schon wieder wie üblich zu einem seiner berühmten Seitenhiebe nutzt: Ob er mit dieser Entscheidung denn einen bewußten Kontrast zu Bettino Craxi setzen wolle, läßt er sich im Fernsehen von einem seiner Stichwortgeber fragen: der Sozialistenchef habe offenbar monatelang hinter den Kulissen bei den Abgeordneten antichambriert und am Ende erreicht, daß vier der sechs Anträge auf Aufhebung der Immunität zurückgewiesen wurden. Nein, sagt Andreotti, das sei kein Kontrast gewesen. Er sei schon immer entschlossen gewesen, auf seine Immunität zu verzichten — nur habe er nicht durch sein Beispiel die Entscheidung im Falle Craxi präjudizieren wollen.

Die Kommentatoren sind, wieder einmal, sprachlos – wozu hat sich Andreotti dann vierzehn Tage lang zweimal wöchentlich mit ellenlangen Memoranden in den Immunitätsausschuß begeben? Die Antwort ist nicht schwer. Auf diese Weise hat er die Öffentlichkeit schon mal auf seine Verteidigung vorbereitet, vielleicht auch deren Stimmung ausgelotet. Einige Zeitschriften haben den 120 Seiten langen Verteidigungstext Andreottis ungekürzt beigelegt – er wird, wie immer, seine Langzeitwirkung entfalten.

Im übrigen zeigt Andreotti, wo immer er auftritt, genau jene Schlauheit, die seine Gegner immer das Fürchten gelehrt hat. Mit viel Schärfe und überraschenden, oft nur wenige Worte umfassenden Statements wischt er lange Beweisketten einfach weg. Seinen Gegnern bleibt da meist nur ein tiefes Atemholen.

Ein Beispiel: Der Vorsitzende des Immunitätsausschusses zählt eine Liste von Männern auf, die Andreotti nach Aussagen mafioser Kronzeugen empfangen haben soll, und fragt dann: „Von diesen Männern, Herr Senator, mußten Sie doch wissen, in welchem Ruf sie standen – warum haben Sie sie, noch dazu als Sie Minsiterpräsident waren, zu sich vorgelassen?“ Andreotti: „Ich habe die Angewohnheit, jeden zu empfangen, der mit mir reden will.“

Bumm. Es dauert drei Minuten, bis den Kommissaren eine neue Frage einfällt. Andreotti lebt davon, daß jede menschliche Geste, jede Tat, jedes Wort auch andersherum gesehen, gehört und interpretiert werden kann. Die Anti- Mafia-Kommission, vor die er wieder einmal geladen ist, will wissen, wieso er, siebenmal Ministerpräsident, nicht entschiedenere Gesetze gegen die Mafia ersonnen hat. Andreotti: „Wir hatten seit Kriegsende fünfzig Regierungen. Haben Sie die anderen Regierungschefs ebenfalls danach gefragt?“ Dann schaut er in die Runde: „Muß ich Sie daran erinnern, daß die einzige bisher effiziente Fahndungsbehörde DIA ebenso wie die Zentralstaatsanwaltschaft zum Kampf gegen die Mafia in meiner Amtszeit eingeführt wurde?“

Bumm und erneutes blackout in der Kommission: jeder weiß, daß die neuen Behörden von Andreotti weder erfunden noch gefördert wurden. Sie wurden 1991/92 nach einer beispiellosen Mordserie, an deren Ende die Bombenattentate gegen die Oberfahnder Falcone und Borsellino standen, auf öffentlichen Druck eingeführt. Aber Andreotti war da eben gerade Regierungschef, und er nutzt diese Tatsache weidlich.

Er dreht und wendet sich, daß es einem dabei schon fast übel werden kann, aber das ist eher dem Gefühl der Ohnmacht geschuldet. Mit einer Dreisätzeaussage fegt er die Behauptung einiger Mafiosi vom Tisch, ihre Bosse hätten ihnen Straffreiheit versprochen, weil Andreotti das Oberste Gericht in Rom in jeder Hinsicht zu beeinflussen vermöge: „Ich bezweifle nicht, daß die Bosse ihnen das gesagt haben. Nur so konnten sie die Leute ja zum Töten veranlassen. Aber das heißt nicht, daß dies stimmt. Angeber.“

Natürlich ist keine einzige seiner Äußerungen ein wirklicher Gegenbeweis, doch Andreotti hat in seinem mehr als 50 Jahre dauernden Politikerleben und 27 heil überstandenen Untersuchungsausschüssen gelernt, daß es sich mit einmal ruinierten Ruf trefflich leben läßt, solange die anderen sich noch immer an die rechtsstaatliche Prämisse der Unschuldsvermutung vor dem letztinstanzlichen Urteil halten. Genau an dieser Stelle scheint er allerdings die bisher einzigen Zweifel am positiven Ausgang dieses Gefechtes zu hegen: er traue allen Staatsanwälten, sagt er, und den Gerichten sowieso – nur denen in Palermo nicht.

Seit dort ein neuer Generalstaatsanwalt vom Schlage des ermordeten Giovanni Falcone wirkt, fürchtet Andreotti, daß in der sizilianischen Inselhauptstadt erneut eine prestigeträchtige Stelle entsteht, der die Richter, wie bei Falcone, auch dann glauben, wenn die Beweise auf mitunter eher kühnen Hilfskonstruktionen beruhen. Und so hat er zwei Wochen nichts anderes getan, als vorsichtshalber schon mal die Inseljustiz madig zu machen. Sie wird es danach ziemlich schwer haben, den ihr nun angehängten Vorwurf des fumus persecutoris, der politischen Verfolgung, abzustreifen.

Dennoch hat Andreotti mit dem Trommelfeuer gegen die palermitanischen Ankläger noch lange nicht die entscheidenden Register seiner Verteidigung gezogen – angedeutet hat er immerhin, in welche Richtungen er denkt. Zwei Hauptlinien werden dabei erkennbar: einerseits sucht er die Vorwürfe gegen ihn als gigantisches Komplott abzutun – unterstützt und in die Tat umgesetzt von alten Widersachern wie dem von ihm gestürzten ehemaligen antimafiosen Bürgermeister Leoluca Orlando, doch geschmiedet in den USA. Motiv: Rache wegen seiner autonomistischen Politik Onkel Sam gegenüber in seiner Zeit als Außenminister, und als Prävention, daß er im Falle neuer Kriegslüsternheit der Yankees etwa in Ex- Jugoslawien nicht ebenso die Bremse ziehen könne, wie er es gegenüber Reagan und Bush bei der Nachrüstung und im Irak-Krieg getan hat. Mit Sicherheit wird er den Prozeß um diese Verdienste herum aufbauen und so die Ankläger zu kleinmütigen Beckmessern eines großen Friedenserhalters darzustellen versuchen.

Die zweite Stoßrichtung zielt auf das italienische Volk selbst – und da könnte er noch mehr Erfolg haben. Wie oft, so fragt er schon jetzt, habe das Volk Gelegenheit gehabt, ihn abzuwählen? Über zehn Legislaturperioden hinweg sei er immer wieder gewählt worden, und seit sieben Wahlen unbestreitbar stets mit der mit Abstand höchsten Stimmenzahl aller Politiker. Und wieder findet er den Dreh: niemand von seinen Abermillionen Wählern könne sagen, er falle ob der Anklagen aus allen Wolken – schließlich sei derlei schon so oft über ihn geschrieben worden. Wenn ihm das Volk trotzdem so oft das Vertrauen ausgesprochen habe, bedeute ein Prozeß gegen ihn wohl auch einen Prozeß gegen eine ansehnliche Mehrheit des Volkes.

Man mag sich an den Kopf greifen oder das Ganze als geradezu teuflischen Zynismus abtun: tatsächlich aber ist es Andreotti bereits jetzt gelungen, mit dieser Marschrichtung die Weichen neu zu stellen. Die Sehnsucht vieler Italiener, das alte, verfaulte, korrupte System abzuschaffen, wird für ihn so zu einem Prozeß, bei dem es nicht um mafiose Verfilzung geht. Vielmehr stellt er das Ganze so dar, als ginge es um die Ausschaltung eines Mannes, den sich das Volk gewählt und unter dem es ein halbes Jahrhundert in Frieden und einem gewissem Wohlstand gelebt und das durch den Faschismus ramponierte Ansehen wieder aufgebessert hat.

Mit dem Versprechen, die gegen ihn gerichtete Anklage in eine Anklage des italienischen Volkes gegen sich selbst zu wenden, löst er bereits heute jene Verwirrung in der Öffentlichkeit aus, auf die er hofft. Genüßlich und im rechten Maße geschürt, führt sie geradewegs zur Forderung, die Sache doch endlich zu begraben, in einer Art Amnestie oder sonstwie, aber auf jeden Fall nicht zu einem Spiegel zu machen, in den man hinein- und Andreotti herausschaut.