Windschutzscheibenperspektive

■ In der Schublade des Berliner Umweltsenators schlummert eine Studie, die belegt, daß Fußgänger und Radfahrer schon bei der Planung von Straßen übersehen wurden.

Windschutzscheibenperspektive

Als Berlins Stadtentwicklungs- und Umweltsenator Volker Hassemer (CDU) vor über einem Jahr eine Studie veröffentlichte, in der erstmals die Abgas- und Lärmbelastung auf Berlins Hauptstraßen analysiert worden war, waren die Ergebnisse bereits alarmierend: auf zwei Dritteln des 260 Kilometer langen Hauptstraßennetzes wird der von der EG vorgegebene Alarmwert – in einem Fall gar der Grenzwert – für Stickoxid überschritten. Der Lärmpegel liegt sowohl tagsüber wie auch nachts auf nahezu allen Hauptstraßen weit über dem, was Gesundheitsexperten und Umweltbundesamt (UBA) noch für zumutbar halten. Die Studie zur ökologischen Belastbarkeit der Berliner Innenstadt durch den Kfz-Verkehr fand damals bundesweite Beachtung und führte dazu, daß sich neben Berlin auch Städte wie Frankfurt und München Gedanken über eine Verkehrsberuhigung ihrer Innenstädte machten.

Was damals aber niemand ahnte: der Stadtentwicklungssenator hielt eine zweite – ebenfalls brisante – Studie zurück. Denn die Gutachter hatten nicht nur die Abgas- und Lärmemissionen untersucht, sondern auch die stadtverträgliche Belastbarkeit der Berliner Innenstadt durch den Kfz-Verkehr. Die Ergebnisse dieses Gutachtens, das der taz vorliegt, könnten bundesweit erneut für Wirbel sorgen. Wie aus seinem Hause verlautete, will Senator Hassemer den Bericht nun in diesem Monat endlich veröffentlichen.

Stadt- und Verkehrsplaner müssen sich auf heftige Kritik ihrer bisherigen Arbeit gefaßt machen. Die Gutachtergruppe der Berliner Gesellschaft für Informatik, Verkehrs- und Umweltplanung mbH (IVU) und der Berliner Forschungsgruppe Stadt und Verkehr (FGS) fand nämlich heraus, daß in dem etwa 100 Quadratkilometer großen Stadtgebiet, in dem knapp 1,1 Millionen Einwohner leben, Fußgänger und Anwohner offensichtlich schon bei den Planungen von Straßen vergessen worden sind: Bürgersteige seien zu eng, Straßen zu gefährlich und die Kosten für Sach- und Personenschäden in jeder zweiten Straße schlicht nicht hinnehmbar. Die Arbeit, die wie die Ökostudie ursprünglich von Hassemers Amtsvorgängerin Michaele Schreyer (Grüne) in Auftrag gegeben worden war, gilt unter Verkehrsexperten als Pionierstudie. In keiner deutschen Stadt ist bisher die Sicherheit und Stadtverträglichkeit so detailliert untersucht worden. Würden andere Städte die gleiche Untersuchung durchführen, dürften sie zu ähnlich vernichtenden Ergebnissen kommen.

Unfallkosten volkswirt- schaftlich nicht vertretbar

Bereits bei den Vorarbeiten mußten die Wissenschaftler feststellen, daß Planer und Politiker ihr Versprechen, alle Verkehrsteilnehmer – neben Autofahrern und Benutzern öffentlicher Verkehrsmittel also auch Radfahrer und Fußgänger – gleichberechtigt zu berücksichtigen, nicht einlösen. In den offiziellen Verkehrszählungen seien Fußgänger „weitgehend“ unbeachtet geblieben, heißt es in dem Bericht, der zwei Leitz-Ordner füllt. Angaben etwa, wie schwer Straßen zu überqueren sind, seien gar nicht vorhanden. Über die tatsächliche Geschwindigkeit von Autofahrern gebe es nur für einzelne Straßen Erhebungen.

Den Datenmangel zum Thema Tempo rügen die Gutachter besonders, denn schließlich sei die tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit der Autofahrer relevant für die Menge der Luftschadstoffe, für den Straßenlärm und auch für die Verkehrssicherheit. Die Projektgruppe fand heraus, daß im Westteil der Stadt die Unfälle auf einem Kilometer Hauptstraße im Schnitt über 1,6 Millionen Mark kosten, im Ostteil 0,86 Millionen Mark.

Insgesamt beliefen sich die volkswirtschaftlichen Kosten durch Unfälle im Jahr 1989 in der City-West auf über 314 Millionen Mark und in der City-Ost im Jahr 1990 auf über 72 Millionen Mark. Hier dürften inzwischen aufgrund der drastischen Zunahme des Autoverkehrs die Kosten spürbar in die Höhe geschossen sein. Im Westteil haben Stadt- und Verkehrsplaner den Hermannplatz im Bezirk Neukölln so unübersichtlich gestaltet, daß er mit hochgerechnet 6,5 Millionen Mark Unfallkosten pro Kilometer die teuerste Straße ist. Im Ostteil macht die Frankfurter Allee mit 4,7 Millionen Mark das Rennen. Die durchschnittlichen Kosten sind Senator Hassemer zu teuer. Er hält pro Westkilometer mit 800.000 Mark und pro Ostkilometer gerade noch mit 400.000 Mark jeweils die Hälfte für vertretbar.

Die Unfälle verteilen sich nicht gleichmäßig über das 240 Kilometer lange Hauptstraßennetz. Im Westteil sind die Unfallkosten in Geschäftsstraßen mit drei Millionen Mark pro Kilometer doppelt so hoch wie in Hauptstraßen mit überwiegender Wohnnutzung. Im Ostteil sind wiederum Industriestraßen mit knapp 1,5 Millionen Mark die teuersten. Doch nicht nur bei der Sicherheit scheinen Stadt- und Verkehrsplaner kläglich versagt zu haben. Die Gutachtergruppe zieht beim Thema „Straßenraum“, der schließlich nicht nur dem Auto- und Lastwagenverkehr für die „freie Fahrt“ dienen soll, eine ähnlich vernichtende Bilanz. Nicht nur erfüllten fast alle großen Hauptstraßen der Berliner Innenstadt drei von sechs Bewertungskriterien nicht, sie überschreiten sogar die von den Gutachtern erarbeiteten Alarmwerte. Insbesondere wird bemängelt, daß Fußgängerwege zu schmal und Fahrbahnen zu breit seien.

Die Gutachter unterstellten, daß aus stadtplanerischen Gründen die Fahrbahn nicht mehr als zwei Fünftel der gesamten Straßenbreite einnehmen sollte. Im 19. Jahrhundert sei dieses Verhältnis weitgehend berücksichtigt worden, so wird berichtet. Doch „im Zuge der autoorientierten Planung wurden die Fahrbahnflächen zu Lasten der Seitenräume aufgeweitet“. Von den Berliner Hauptstraßen weisen nur noch sieben Prozent die wünschenswerte Verteilung der Flächen auf, auf 184 Kilometern wird das günstige Verhältnis nicht mehr erreicht, auf 45 Kilometern Straßenlänge wird der Alarmwert überschritten: Fahrbahnen nehmen mehr als zwei Drittel des gesamten Straßenraums ein. In der Putlitzstraße im Bezirk Tiergarten bleibt den Fußgängern gerade mal ein Achtel der Fläche – und die müssen sie auch noch mit Bäumen, Radfahrern und parkenden Autos teilen.

Gesundheitsorientierte Bestandsaufnahme notwendig

Auch die „soziale Brauchbarkeit“ der Straßen läßt zu wünschen übrig; Straßen lassen sich nicht in einem angemessenen Zeitraum überqueren. Fußgänger brauchen laut Untersuchung nur auf einem Viertel der Straßen nicht länger als sechs Sekunden zu warten. Bei allen übrigen Straßen trennt der Verkehr beide Seiten so wirksam, daß für die Nutzer „größere Zeitverluste“ entstehen. Etwa die Hälfte der Hauptverkehrsstraßen sei sogar so stark befahren, daß mehr als 12 Sekunden für einen Seitenwechsel gewartet werden muß. Für die Verfasser der Expertise wird auch hier der Alarmwert überschritten.

Für den Bremer Referatsleiter für kommunales Wohnungswesen Johannes Spatz, dem die Berliner Studie bekannt ist, zeigen die Ergebnisse, daß eine gesundheitsorientierte Bestandsaufnahme der Verkehrssituationen in den Ballungszentren „dringend notwendig“ ist. Er fordert von Gesundheitssenatoren und -ministern, „endlich gegen die gesundheitsgefährdende Mobilität Stellung zu beziehen“. Daß die Stadtplaner nicht nur in Berlin versagt haben, weiß Spatz aus eigener Erfahrung: in Bremen sei das Radfahren immer gefährlicher geworden, denn der Kraftfahrzeugverkehr, der sich in den vergangenen 20 Jahren verdoppelt hat, habe immer mehr Platz bekommen – wie immer und überall zu Lasten derjenigen, die sich zu Fuß oder mit dem Rad fortbewegen.