Knabbern am „jus soli“

Frankreich: Staatsbürgerschaft muß beantragt werden  ■ Aus Paris Bettina Kaps

Im Umgang mit der Öffentlichkeit überläßt Frankreichs neuer Premierminister Edouard Balladur nichts dem Zufall. Daher hat es großen Symbolcharakter, daß seine Regierung ausgerechnet diese Gesetzesreform zuerst ins Parlament eingebracht hat: Seit gestern debattiert die Nationalversammlung über eine Verschärfung des Gesetzes über die Staatsbürgerschaft. Das geltende jus soli stammt aus der Zeit der Aufklärung und der französischen Revolution, seit 1889 ist es in der Gesetzgebung verankert und wurde nur in der Vichy-Zeit außer Kraft gesetzt. Das „Recht des Boden“ sieht vor, daß jede Person mit Volljährigkeit automatisch Franzose ist, sofern sie in Frankreich geboren wurde und die letzten fünf Jahre dort gelebt hat; wer das nicht will, hat eine Jahr lang das Recht, die französische Staatsbürgerschaft abzulehnen.

Diesen Automatismus will die Rechte nun abschaffen. Kinder ausländischer Eltern, die in Frankreich geboren wurden und dort aufgewachsen sind, müssen demnächst im Alter zwischen 16 und 21 Jahren ausdrücklich erklären, daß sie die französische Staatsbürgerschaft annehmen wollen. Diese kann ihnen nur dann verweigert werden, wenn sie zu mindestens sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden sind. Erscheint die Änderung auf den ersten Blick auch geringfügig, so verbirgt sich dahinter doch eine ganz neue Logik.

Mehrere Jahrzehnte ging die Republik davon aus, daß Geburt, Umfeld und insbesondere die Schule zur Integration der Neuankömmlinge führen und mindestens ebenso starke Bindungen an das Land schaffen wie die Abstammung. Schon 1889 wurde argumentiert, das Bodenrecht solle verhindern, daß sich in Frankreich Gruppen von marginalisierten Ausländern bilden, die den sozialen Frieden bedrohen könnten. Heute argumentiert die Regierung hingegen, daß ein bewußtes Bekenntnis zur Staatsbürgerschaft die Integration fördert. Die Gegner erklären, daß niemand seine Nationalität wählt, sondern daß man diese — auch durch Geburt — stets automatisch übernimmt. Sie kritisieren, daß die neuen Bestimmungen einen künstlichen Unterschied zwischen Jugendlichen schaffen werden, die ihre gesamte Kindheit und Schulzeit gemeinsam verbracht haben.

Die Reform sieht weitere Verschärfungen vor: Bislang können Eltern jederzeit die französische Staatsbürgerschaft für ihre minderjährigen Kinder beantragen, sofern sie fünf Jahre in Frankreich gelebt haben. Diese Möglichkeit wird abgeschafft: Vor ihrem 16. Lebensjahr können Immigrantenkinder in Zukunft nicht mehr Franzosen werden. Nach Heirat eines Franzosen mußte ein Ausländer bisher sechs Monate auf die Staatsbürgerschaft warten; diese Frist soll in Zukunft auf ein bis zwei Jahre verlängert werden.

Der Ehrenpräsident der Liga für Menschenrechte, Yves Jouffa, fordert die Regierung auf, ihren Gesetzesentwurf zurückzuziehen. Aus Protest gegen den Text trat er aus der Beratungskommission für Menschenrechte aus. „Ich bin selbst Sohn eines Immigranten und hätte es nicht verstanden, wenn man mir vor meinem 16. Lebensjahr das Recht verweigert hätte, Franzose zu werden“, erklärte er seinen Schritt. Er erinnerte daran, daß Ex-Premierminister Pierre Bérégovoy als Sohn ukrainischer Einwanderer mit 16 Jahren in die Résistance eintrat, „nach dem, was die Reform vorsieht, wäre er damals nicht Franzose gewesen“. Es sei gefährlich, Einwandererkinder auf diese Weise zurückzuweisen und ihnen eine Wahl aufzuzwingen, die in ihren Augen bislang nicht existiert.

Die Liga für Menschenrechte betont, daß vor allem Jugendliche, die in den sozialen Ghettos am Rande der Großstädte aufwachsen und sich von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlen, die neue Vorschrift als einen weiteren Schritt der Ablehnung, des Mißtrauens und der Diskriminierung empfinden müssen. Indem straffälligen Einwandererkindern die Staatsbürgerschaft verweigert werden kann, schafft das Gesetz einen zusätzlichen Unterschied: beurs droht in Zukunft eine doppelte Strafe, zum Knast kommt noch die Verweigerung der Einbürgerung und — als Konsequenz — die Ausweisung.

Die konservativen Parteien wollen die Einbürgerung schon seit langem erschweren. Während der ersten cohabitation hatte die Regierung Chirac 1987 ein weit radikaleres Gesetz vorgelegt, daß sie unter dem Druck der Öffentlichkeit zurückziehen mußte. Da sich die Rechte jetzt aufgrund ihrer Vierfünftelmehrheit im Parlament um Widerstände der Opposition nicht zu kümmern braucht, dürfte sie das neue Gesetz spätestens bis morgen abend verabschiedet haben.